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Quereinstieg Tätowierer: Vom Erzieher zur kreativen Freiheit

Foto von Gil: @ kaspa_noe
Als ich selbst Tätowiererin werden wolltve, kam ich gerade frisch aus dem Abitur. Ich habe viel gezeichnet – in der Schule und in den Pausen meiner Nebenjobs. Für mich gab es mit Anfang 20 keine Alternative. Für ein Studium der sozialen Arbeit war mein Abi zu schlecht und eine reguläre Ausbildung konnte ich mir nicht vorstellen. Ich habe nie länger als ein halbes Jahr in einem 9-to-5-Job gearbeitet. Ich bin es gewohnt, selbstständig zu sein – mit allen Vorteilen und Ängsten. Wenn ich heute auf meinen Weg zurückblicke, weiß ich nicht, ob ich ihn noch einmal so gehen würde. Aber ich war jung und hatte ein Ziel: Tätowiererin werden.
Freie Entscheidungen zu treffen und Unsicherheiten in Kauf zu nehmen, bewegte sich für mich irgendwo zwischen Wahnsinn, Aussichtslosigkeit und Privilegien. Es war eine Mischung aus glücklichen Fügungen und viel Anstrengung. Ich war jung und leichtsinnig – leichtsinnig genug, um zu glauben: Das klappt! Vielleicht hat es genau deshalb funktioniert. Ich war zu stur, um aufzugeben.

Quereinstieg Tätowierer: Von Sicherheit zu Selbstverwirklichung
Aber was, wenn du eigentlich einen anderen Weg eingeschlagen hast und dann merkst, „Kunst interessiert mich, sie erfüllt mich viel mehr“? Wie einfach ist es, einen sicheren Job zu kündigen? Was sagt das Umfeld dazu – und ist das überhaupt wichtig?
Viele träumen vom Quereinstieg als Tätowierer*in – Gil (@sacredlamb.ttt) hat ihn gewagt. Nach Jahren im Erzieherberuf entschied er sich für die Tattoo-Kunst. In diesem Interview erzählt er von Zweifeln, Umwegen und Entscheidungen:

Sinah: Was hast du vor dem Tätowieren gemacht?
Gil: Nach der Schule habe ich eine Ausbildung angefangen, die ich zu den Zwischenprüfungen abgebrochen habe, da mich das Arbeiten in einer Industrie nicht wirklich erfüllt hat. Anschließend wollte ich in eine ganz andere Richtung gehen und dachte an soziale Arbeit.
Um mit möglichst wenig Verantwortung zu sehen, ob das wirklich etwas für mich wäre, habe ich ein freiwilliges soziales Jahr (FSJ) in einer Kita angefangen. Nach dem FSJ kam eine Ausbildung zum Erzieher, in der ich bereits angefangen habe, nebenher zuhause zu tätowieren. Nach der Ausbildung habe ich noch ungefähr ein halbes Jahr als Erzieher in einer Kita gearbeitet.
Sinah: Wie kamst du zum Tätowieren?
Gil: Das waren viele Faktoren, die unter anderem durch mein Lebenslauf zustande kamen. Mein Traum war es immer, mit etwas Kreativem und Erfüllendem mein Leben zu finanzieren. Gezeichnet habe ich immer gerne, aber es eine Zeit lang ziemlich vernachlässigt. In meiner Ausbildung zum Erzieher kam die Freude am Zeichnen wieder zurück und parallel dazu habe ich meine ersten Tätowierungen bekommen.
Die Tattoo-Sessions waren toll und haben nachhaltig auf mich gewirkt. Die Stimmung im Studio, die Kunst, der Austausch mit den Artists, die Musik im Hintergrund – also die ganze Atmosphäre. Da sah ich eine gute Verbindung aus allen meinen Interessen: Kontakt mit Menschen, Kreativität und für meine Kund*innen eine schöne Atmosphäre schaffen.

Sinah: Wie hast du den Einstieg gefunden?
Gil: Den Einstieg wollte ich viel langsamer angehen, als er es dann war. Die Idee war viel zuhause zu tätowieren, zu üben und mich dann vielleicht schon mit einer kleinen Stammkundschaft in Studios zu bewerben. Und nebenbei als Sicherheit weiter den Kita-Job machen.
Letztendlich ging es in der Kita drunter und drüber. Ich habe mich da nicht mehr wohl gefühlt, den Job gekündigt und eine recht klassische Studio-Ausbildung angefangen. Mit Stationen auf- und abbauen, den Artists zuschauen, später dann Tattoos for free und Studio putzen. Das Arbeiten und das direkte Feedback während meiner Ausbildung empfand ich als hilfreich, um einen eigenen Stil zu finden und bei Fragen immer jemanden zur Seite zu haben. Das lief dann ein halbes Jahr so, bis ich ganz in die Selbständigkeit ging.
Sinah: Hat es Mut gebraucht und welche Schwierigkeiten gab es?
Gil: Ja, Mut hat es definitiv gebraucht. Ich musste die Sicherheit von einem festen Gehalt, Unterstützung für die ganzen Versicherungen etc. aufzugeben – quasi alles, auf das ich mich bei einer Festanstellung verlassen kann. Nichtsdestotrotz habe ich Unterstützung von Kolleg*innen in der Selbstständigkeit bekommen, die mir alles erklärt haben und ich hatte halbwegs viel zu tun, sodass ich zumindest vom Tätowieren Leben konnte.

Sinah: Ist sozialer Druck dabei ein Thema für dich gewesen?
Gil: Beim Übergang zum Tätowieren tatsächlich weniger und mittlerweile gar nicht mehr. Als ich meine erste Ausbildung gekündigt hatte, fiel mir das deutlich schwerer. Dazu habe ich meine Oma noch im Kopf, die, als ich ihr das gesagt habe, völlig verständnisvoll war und ungefähr meinte, „Wenn dir das kein spaß macht, mach das doch nicht“.
Neuen Tätowierer*innen würde ich aber dennoch raten, das Tätowieren erstmal als zweites Standbein zu beginnen. Mit einem sicheren Job an der Seite ist es zwar stressiger, aber zumindest ist der finanzielle Teil nicht ganz so stressig.
Sinah: Glaubst du, eher mit dem Tätowieren anzufangen, wäre einfacher gewesen?
Gil: Vielleicht, weil damals alles noch anders aussah. Zum Beispiel gab es weniger Tätowierer*innen und es wäre eventuell einfacher gewesen, ein Stammklientel aufzubauen.

Sinah: Glaubst du, es hat auch Vorteile, später zu starten?
Gil: Ja, zum einen die Berufserfahrung außerhalb des Tätowierens. Gerade in meinem Fall war der soziale Beruf schon manchmal hilfreich, denke ich. Man hat aber auch so ein bisschen mehr „Lebenserfahrung“ an sich und weiß die Selbstständigkeit mehr zu schätzen.
Sinah: Danke Gil, für deine Offenheit und dass du deine Kunst mit uns teilst!
Hier findet ihr Gil und seine Arbeiten
Instagram: @sacredlamb.ttt
Tattoo-Shop: @highcontrasttattoo