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“Tätowieren muss ein toller Job sein!” – das denken viele, doch wie in jedem Beruf gibt es auch hier Höhen und Tiefen. Einen besonderen Einblick in das Leben als Tätowiererin liefert Charlotte Legrand (“Arcana Body Art”, Charleroi, BE) in ihrer Comic-Reihe “The Anxious Tattooer”. Anxious kommt aus dem Englischen und bedeutet besorgt oder ängstlich – und genau so fühlt sich der Character in Charlottes Comics häufiger mal.
Mit der Reihe angefangen hat sie im Mai diesen Jahres, als sie eine Zeit voller Stress und Sorgen hatte. Da griff sie zu ihrem natürlichen Ventil zur Beruhigung: dem Zeichnen. So verarbeitet Charlotte ihre Ängste und Erlebnisse als Tätowiererin in einem Comic, der sich großer Beliebtheit erfreut. Tätowierer*innen erkennen sich in den Comics wieder und auch Kund*innen finden den humorvollen Einblick in das Leben eines Tattoo Artists interessant. Auch wir verfolgen Charlottes Comics seit Beginn begeistert und wollten daher endlich mal die Künstlerin dahinter näher kennenlernern!
Von der Geschichtslehrerin zur Tätowiererin
Bevor sie mit dem Tätowieren anfing, war Charlotte bereits seit vier Jahren Lehrerin. Sie studierte Kunst und Geschichte auf Lehramt und unterrichtete anschließend in diesen Fächern. Doch wie kommt man vom Lehrberuf hin zum Tätowieren? In Charlottes Fall kam einer der entscheidenden Schubser in diese Richtung wohl von ihrem Onkel, der selbst einige Tattoos hat. Immer wieder sagte er Charlotte, dass sie doch mal ins Tattoo Business einsteigen sollte, dort würde man säckeweise Kohle scheffeln: “Damit brachte er mich immer zum Lachen. Er ist einfach diese Art italienischer Onkel, der immer wie ein Mafiosi spricht und von Las Vegas träumt, aber eigentlich total zufrieden mit seinem Familienleben ist.”
Doch auch wenn es mehr scherzhaft war, kam der Gedanke ans Tätowieren so regelmäßig in Charlottes Leben auf. Wie es dann für Charlotte weiterging, wie sie letztlich zum Tätowieren kam und mehr über “The Anxious Tattooer” erzählt sie euch im Folgenden selbst.
Hey, Charlotte! Wie kamst du denn nun zum Tätowieren?
Ich tätowiere jetzt ungefähr seit vier fünf Jahren und bekam mein erstes Tattoo mit 20 Jahren. Damals fragte ich aus reiner Neugier meinen Tätowierer, wie man eigentlich Tätowierer wird. Tatsächlich war es wirklich nur Neugier, da ich zu dieser Zeit noch vollkommen darauf fokussiert war Kunstlehrerin zu werden. Doch seine Reaktion überraschte mich, da er sehr abwehrend wirkte und ziemlich grimmig antwortete. Tätowieren wäre nur für die allerbesten Künstler und er selbst hätte nur einen einzigen Lehrling gehabt und er würde zukünftig niemanden mehr ausbilden.
Das traf mich etwas, da ich damals sehr unsicher war, wenn es um meine Kunst ging. Doch auf der anderen Seite fühlte ich mich auch herausgefordert, diesem grimmigen Tätowierer zu beweisen, dass ich seine Anerkennung wert wäre. Natürlich ist das jetzt beim Zurückdenken total albern, da ich keinerlei Verbindung zu diesem Typ hatte. Also, naja. Vielleicht hatte ich einen winzig kleinen Crush, aber wer hätte im jugendlichen Leichtsinn so einem typischen Bad boy schon widerstehen können?
Und dann?
Nun, ich recherchierte ein wenig und schaute mir die Arbeiten seiner Auszubildenden an. Sie heißt Jenzie und wurde eines meiner ersten Idole. Sie war die erste Person in der Tattooszene, zu der ich wirklich heraufschaute. Sie ist übrigens auch Belgierin, doch ich hatte bisher nie den Mut mich mal mit ihr zu melden.
Im ersten Sommer nach meinem Studium arbeitete ich dann ein bisschen im Barber Shop meines Onkels. Dort shampoonierte ich dann hauptsächlich oder servierte Kaffee. Zur selben Zeit gab es über dem Laden meines Onkels auch ein Tattoostudio. Mit dessen Besitzer verstand sich mein Onkel ziemlich gut und forderte mich immer wieder dazu auf, doch mal oben bei John (dem Tätowierer) vorbeizuschauen. Tatsächlich konnte ich mich dazu überwinden und zeigte ihm meine Zeichnungen. Sobald er meine Arbeiten sah, bot er mir einen Ausbildungsplatz bei sich an und ich lernte zunächst mehr über die Hygienestandards. Tätowiert habe ich gar nicht, nur zugesehen und gezeichnet.
Und dann, blöd wie ich war, nahm ich eine Stelle als Lehrerin an, da ich mir lieber einen “echten” Job suchen sollte anstatt mit Tattoos herumzuspielen. Meine Eltern haben das Tätowieren damals auch nicht wirklich ernst genommen und mehr als Phase gesehen, die ich hinter mich bringen musste.
Das hat mich nie wirklich losgelassen und ich hab’s immer bereut das Tätowieren so einfach aufgegeben zu haben.
Aber am Ende hat es ja doch irgendwie für dich funktioniert. Wie hast du dich dann doch wieder umentscheiden können?
Dafür müssen wir erstmal ein paar Jahre vorspulen. Mein damaliger Freund (jetzt Ex) hatte eine Menge Tattoos und ich ließ mir auch immer mehr stechen. Mittlerweile hatte ich auch mehr Menschen mit Tätowierungen im Bekanntenkreis und jeder einzelne von ihnen meinte, dass meine Zeichnungen die perfekten Tattoovorlagen wären. Tatsächlich hatte ich schon immer einen recht illustrativen Stil mit einer Leidenschaft für Linework und Dotwork.
Dann wurde mir von einer der Personen ein bestimmtes Tattoostudio empfohlen. Dort sollte ich mit meiner Mappe hin und sagen, dass der Chef mich geschickt hätte. Ich war super nervös und auch sehr eingeschüchtert, da ich bereits ein wenig mit dem Tätowieren angefangen hatte. Nur Zuhause auf mir selbst und meinem Freund. Daher hatte ich Angst, dass man mich für einen Scratcher halten würde, was ich bei näherem Nachdenken wohl auch war. Ich wusste ja bereits alles über die notwendige Hygiene und hatte auch einen eigenen Raum zum Tätowieren eingerichtet. Dort gab es prinzipiell alle Vorkehrungen, die ich auch in meinem jetzigen Shop habe. Aber natürlich hatte ich keinerlei Erfahrungen mit dem Handwerk und niemanden, der es mir lehren konnte. Total peinlich, wenn ich an meine Fahrlässigkeit damals zurückdenke.
Nun hast du aber ja doch noch den professionellen Weg eingeschlagen. Wie lief es denn in dem Shop?
Sie haben mich sofort genommen und ich durfte bereits nach einer Woche tätowieren. Alter Schwede, der Druck war enorm und ich war überhaupt nicht bereit dafür. Ich habe eine ganz klassische Ausbildung erwartet, aber so lief das Ganze nicht ab. Tatsächlich musste ich direkt Geld einnehmen und 50 % meiner Einnahmen abgeben. Das meiste habe ich mir also selbst beibringen müssen – die typische Trial-and-Error-Methode . Und ich wünschte, ich könnte mich bei all denen entschuldigen, die mit meinen grottigen Beginner-Tattoos herumlaufen. Allein der Gedanke daran und darüber zu sprechen löst enormes Unbehagen in mir aus.
Generell war die Angst vor dem Fall immer präsent und ich hab mir den Arsch aufgerissen, um so schnell wie möglich besser zu werden. Nach einem Jahr wechselte ich dann in einen anderen Laden. Ein weiteres Jahr später eröffnete ich mein eigenes Studio, in dem ich auch heute noch tätowiere. Mittlerweile kann ich stolz von mir behaupten, dass ich einen großartigen Kundenstamm habe. Meine Kunden sind sehr respektvoll und brennen für meine Kunst – dafür liebe ich sie!
Und so hat doch alles ein gutes Ende genommen. Das war ja doch ein aufregendes Hin und Her! Was gefällt dir denn heute am besten an deinem Job?
Am schönsten ist es für mich all meine Kunden zu treffen und etwas für jeden einzelnen von ihnen zu zeichnen. Dabei kriege ich oft einen kleinen Einblick in ihr Leben, was für mich ein Privileg ist. Außerdem liebe ich es einfach zu zeichnen – tagein, tagaus. Diese Freiheit, dass ich Beruf und Leidenschaft miteinander kombinieren kann, möchte ich nie mehr missen.
Klingt als hättest du auf jeden Fall deine Berufung gefunden! Aber das Dasein als Tätowiererin ist auch nicht nur Sonnenschein – erzähl doch mal, wie es zum ersten Comic mit “The Anxious Tattooer” kam.
Das war im Mai 2019. Ich war total gestresst, überfordert und hatte eine große innere Unruhe. Auch das Zeichnen in meiner Freizeit fehlte mir, da das normalerweise immer mein Ventil zur Beruhigung war. Als ich den Shop eröffnet habe, wurde Zeichnen immer mehr Arbeit und sobald ich einen Stift in die Hand nahm, versuchte ich automatisch etwas Tätowierbares zu malen. Zudem hatte ich Angst, dass meine Zeichnungen nicht gut genug wären und fand, dass ich schnell besser werden müsste. Und so kam es, dass ich quasi kein Ventil mehr hatte, um einfach mal runterzukommen.
Ich brauchte also dringend einen Weg aus diesem “Zeichnen ist Arbeit”-Teufelskreis und entschied mich dazu Comics zu malen – etwas alberner und nicht zu detailliert. Nach meinem ersten Comic fühlte ich mich so entspannt und war einfach glücklich. Ich verfiel in einen kleinen Kreativitätsrausch und malte bestimmt 20 Comics zu mehreren Themen.
Und wieso fiel deine Wahl speziell auf Comics?
Ich hab zuvor den Comic “The lazy Goth” gesehen und hab mich kaputtgelacht. Dann stellte ich mir mich selbst als Comiczeichnerin vor. Wie würde ich mich darstellen? Natürlich als angst- und sorgenerfüllten Perfektionist. Und so wurde die Idee von “The Anxious Tattooer” geboren.
Ich war schon immer ängstlich und musste lernen damit zu leben. Meistens sind es aber auch eher die Menschen um mich herum, die damit nicht gut umgehen können. Zum Glück habe ich jedoch einen Freund, der sehr geduldig ist und einfach eine beruhigende Art ist. Das hilft mir enorm, wenn ich mal wieder nur noch eine kleine Kugel aus Selbstzweifeln bin.
Was sind denn die Schattenseiten deines Berufs?
Ich denke zunächst einmal, dass Tätowieren schon ein dankbarer Job ist, da man so viele Menschen auf einer tieferen Ebene kennenlernen kann. Aber Fakten auf den Tisch: die Selbstständigkeit ist einfach hart. Der meiste Arbeitsdruck kommt von der Regierung und all den Steuern, bei denen ich immer Angst habe den Überblick zu verlieren.
Manchmal wünsche ich mir, dass ich mich komplett aufs Tätowieren konzentrieren könnte. Aber ständig bin ich mit anderen Dingen beschäftigt: Unterlagen, Rechnungen, Einkäufe, Social Media. Hinzu kommt, das manch ein Kunde einen auch unter Druck setzt: Arbeite billiger, sei schneller! Natürlich möchte ich Qualität bieten, doch diese Schnellkonsumgesellschaft macht es einem oft nicht leicht mitzuhalten.
Außerdem leide ich noch an dem Imposter-Syndrom. Also wenn mir jemand ein Kompliment macht, denke ich, dass sie wohl verrückt sind. Es fällt mir sehr schwer nicht auf all die kleinen Unperfektionen zu achten und mich darauf zu versteifen. Ich bin quasi nie wirklich zufrieden mit meiner Arbeit und kann oft nicht nachvollziehen, warum sie so gut bei anderen ankommt. Denn ich sehe nur, was man hätte besser machen können und wie viele großartige Künstler noch da draußen sind.
Bei einer so großen und gefühlt stetig wachsenden Auswahl an Tattoo Artists kommt bestimmt jeder mal ins Zweifeln. Wir finden auch, dass du mit dem Ansprechen solcher Gedanken in deinen Comics genau das Richtige machst. Du zeigst den Leuten, dass sie mit den Problemen und Gedanken nicht alleine sind und das gibt Vielen ein gutes Gefühl!
Ich hatte einfach das Gefühl, dass es nicht genug Positives im Bereich Tattoo-Humor gab. Immer nur Beschwerden und Gebashe. Deswegen habe ich versucht beiden Seiten – Tätowierer und Kunden – etwas “beizubringen”, ohne dabei gemein zu sein. Humor war schon immer der beste Weg, um schwere Nachrichten zu überbringen. Und mich über mich selbst und meine Erfahrungen lustig zu machen schien mir ein guter Weg zu sein.
Ich liebe meine Kunden und konnte nicht nachvollziehen, wieso so viele Tätowierer ständig diese Memes teilten, wo sich über Kunden beschwert wird. Natürlich sind einige davon witzig und nachvollziehbar, aber sie sind einfach nicht freundlich. Wenn ich mich in einen Kunden hineinversetze, dann würde ich mich echt unwillkommen bei jemandem fühlen, der solche Memes teilt.
Und ich wollte genau den gegenteiligen Effekt erzielen. Zwar soll sich jeder Kunde willkommen fühlen, aber dennoch verstehen, dass Tätowierer auch nur Menschen sind. Es gibt also Hochs und Tiefs im Beruf des Tätowierers, mal ist man schlecht gelaunt oder besorgt. Und Tätowierer neigen dazu diese Gefühle zu verdrängen. Aber eigentlich sind wir alle nur ein Haufen von Fleisch mit Emotionen. Vielleicht sollten wir uns einfach mal mehr umarmen, nicht?
Einige nennen mich Moralapostel, aber ich sehe mich eher als jemand, der anderen etwas Gutes mitgeben will und vielleicht ein Lächeln auf ein paar Gesichter zaubert.
Das schaffst du mit deinen Comics auf jeden Fall! Welcher Comic war bisher der für dich wichtigste?
“Doubt” ist für mich das wichtigste, da ich es nach einem eher schwierigen Comic über Tattoos auf People of Color gezeichnet habe. Für diesen Comic habe ich eine Menge Hass und Gegenwind bekommen, obwohl ich damit einen sicheren Hafen für Menschen schaffen wollte, die genauso über Farben denken. Doch ein paar Personen schafften es mich in so große Zweifel zu treiben, dass ich nicht mal mehr wusste, ob ich weiterhin Comics machen sollte.
Den “Doubt” Comic habe ich gezeichnet, während ich weinte und in Selbstzweifeln ertrank. Ich konnte einfach nicht verstehen, wie Menschen so einfach gemein und verletzend sein konnten. Besonders da ich viel Mühe in die Idee gesteckt habe, um etwas Nettigkeit und Akzeptanz zu verbreiten. Am Ende waren es dann die Reaktionen auf “Doubt”, die mich haben weitermachen lassen. Ich habe daraufhin so viel Unterstützung und liebe Nachrichten bekommen – und kein einziges hasserfülltes Wort.
Da können wir uns auch noch dran erinnern und fanden deine Reaktion mit “Doubt” beeindruckend ehrlich und offen. Was würdest du denn sagen, ist die beste Erfahrung bezüglich deiner Comics gewesen?
Am schönsten ist einfach diese tägliche Interaktion mit all den lieben Menschen. Der Zuspruch und das Gefühl nicht allein zu sein. Außerdem finde ich es großartig, dass auch andere sich durch meine Comics weniger alleine mit ihren Problemen fühlen.
Tatsächlich finden auch wir gerade dieses Gemeinschaftsgefühl, das deine Comics erschaffen, besonders toll!
Damit wären wir nun auch am Ende des Interviews. Danke, dass du dir so viel Zeit genommen hast, Charlotte! Was möchtest du unseren Leser*innen zum Abschluss noch mit auf den Weg geben?
Danke auch an euch! Abschließend würde ich jedem, der das liest sagen: Du bist wertvoll, du bist schön, ich mag dich und du solltest dich selbst auch mögen. Außerdem, lasst mal umarmen (also, nur wer mag)!
Das Original-Interview in der englischen Version findest du hier.
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