Ella Streckenbach – Pionierin der deutschen Tattoo-Szene

Ella Streckenbach – Die starke Frau im Hintergrund
Ella Streckenbach – Die starke Frau im Hintergrund


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Ella Streckenbach wurde in der Kaiserzeit geboren, erlebte als Kind den Ersten Weltkrieg und war im Zweiten Weltkrieg dienstverpflichtet. Mit fast 50 Jahren heiratete sie 1959 den 15 Jahre jüngeren Tattoo-Pionier Horst Helmut „Samy“ Streckenbach. Im Oktober 1964 wurde sie belegbar als erste Frau in Deutschland Mitbegründerin eines Tattoo-Studios.

Kindheit und frühe Jahre

Ella Streckenbach wurde am 7. Februar 1910 als Anna Ella Fuchs in Oelsnitz/Sachsen geboren. 1913 zog sie mit ihrer Mutter nach Leipzig. Diese starb bereits 1914, sodass Ella als Vollwaise bei Verwandten aufwuchs. Sie besuchte die Volksschule und absolvierte eine Ausbildung im grafischen Gewerbe bei der Firma Bleichert, wo sie bis 1930 arbeitete. Nach anschließender Arbeitslosigkeit zog sie 1932 nach Rochlitz in Mittelsachsen.

Arbeit im Gastgewerbe und Kriegsjahre

In Rochlitz erlernte sie in der Dorfgaststätte „Schweizer Haus“ alle Sparten des Gastgewerbes. Ab 1936 arbeitete sie in der Gaststätte „Kreisel“ in Leipzig. Zwischen 1939 und 1945 war sie bei der A.T.G. zum Kriegsdienst verpflichtet. Ihre weitere Tätigkeit nach der Kapitulation im Mai 1945 bis zum Februar 1946 ist nicht dokumentiert. Danach arbeitete sie bis August 1950 in Leipzig im „Hotel Brückner“ und im „Fuchsbau“. Im September 1950 übersiedelte Ella nach Göttingen zu einer früheren Bekannten, die dort als politischer Flüchtling lebte.

Anna Ella Fuchs um 1946
Anna Ella Fuchs um 1946

Ehe mit Tätowierer Samy Streckenbach

Wann genau Ella Horst Helmut Streckenbach kennenlernte, ist unklar. Die ersten Fotografien, die Aufschluss über eine Beziehung nahelegen, stammen von etwa 1957. Am 28. August 1959 heiratete sie den 34-jährigen Horst Helmut Streckenbach im Standesamt Ehringshausen.

Samy & Ella 1959
Samy & Ella 1959

Hinter dem Brautpaar auf dem Hochzeitsfoto stehen Richard und Brunhilde Wulkow. Neuesten Erkenntnissen nach, waren beide mit den Streckenbachs über einige Zeit enger bekannt. In der „Tattoo Collection Kohrs“ findet sich eine Bilderserie, die darauf hinweist.

Das Hochzeitsfoto entstand vor dem kleinen Holzhaus der Eltern Streckenbachs in Ehringshausen.
Das Hochzeitsfoto entstand vor dem kleinen Holzhaus der Eltern Streckenbachs in Ehringshausen.

Links vorne steht vermutlich die zweite Trauzeugin Helga. Das Ehepaar Wulkow war seit den 1950er-Jahren Kundschaft von Streckenbach und in „Bilderbuchmenschen“ von Herbert Hoffmann erwähnt. Auf einigen Fotografien meiner Sammlung ist Ella gemeinsam mit Brunhilde Wulkow zu sehen.

Ella Streckenbach als Tattoo-Ikone

Wann Horst Helmut Streckenbach seine Frau Ella erstmals tätowierte, ist nicht genau dokumentiert. Handschriftliche Bemerkungen auf einigen Fotoabzügen lassen auf den Zeitraum ab 1957 schließen.

Brunhilde Wulkow & Ella um 1958
Brunhilde Wulkow & Ella um 1958
Ella um 1958
Ella um 1958

Samy Streckenbach experimentierte ab den späten 1940ern mit Körperschmuck, insbesondere Intim-Piercings. Ella trug ab ca. 1958 mehrere Piercings. Auf einem Foto sind auch Ellas tätowierte Augenbrauen und Lidstriche gut zu erkennen – sie war damals 48 Jahre alt.

Ella (Akt) um 1958
Ella (Akt) um 1958

Erstes gemeinsames Tattoo-Studio

Im September 1959 zog das Ehepaar Streckenbach nach Aschaffenburg in die Betgasse 14. Dort meldete Samy sein erstes Gewerbe mit dem Zweck „Ausführungen von Tätowierungen“ an.

Er richtete sich in der Wohnung eine Tätowier-Ecke ein und bot feste Öffnungszeiten an. Ob Ella in dieser Zeit eine feste Anstellung hatte, ist bisher nicht bekannt.

Studio in Frankfurt eröffnet

Am 1. Oktober 1964 zogen die Streckenbachs nach Frankfurt am Main. In der Kurt-Schuhmacher-Straße 2 mieteten sie im Erdgeschoss ein kleines Ladengeschäft und in der ersten Etage eine Wohnung an.

Ella vor Samys Tattoo Studio in Frankfurt
Ella vor Samys Tattoo Studio in Frankfurt.

Am 15. Oktober 1964 meldete Streckenbach sein Gewerbe in Aschaffenburg ab. Am gleichen Tag meldete er zusammen mit seiner Ehefrau Ella in Frankfurt ein Gewerbe mit gleichlautendem Zweck an. Beide Gewerbemeldungen sind im Original erhalten. Eine Einsichtnahme in das Gewerberegister Frankfurts ergab folgenden Eintrag: „Streckenbach u. Streckenbach (GbR) Betriebsbeginn am 15. Oktober 1964“.

Demnach ist amtlich dokumentiert, dass Ella Streckenbach als erste Frau in Deutschland Inhaberin eines Tätowier-Studios war. Damit nahm sie eine wahre Vorreiterrolle ein. Ob sie jemals selbst tätowiert hat, ist weder mir bekannt noch schriftlich überliefert.

Das einzige Foto, das sie 1964 mit einer Tätowiermaschine in der Hand zeigt, ist offensichtlich gestellt, da der Kabelanschluss fehlt.

Ella 1964 mit Maschine in der Hand
Ella 1964 mit Maschine in der Hand

Vernetzt in der Tattoo-Szene

Die Streckenbachs pflegten von Anfang an engen Kontakt zu den damals tätigen Tätowierern. Ein Bild zeigt Ella zum Beispiel um 1970 mit dem Tätowierer Fritz Schneider in dessen Tätowier-Ecke in Solingen.

Ella mit dem Tätowierer Fritz Schneider um 1970
Ella mit dem Tätowierer Fritz Schneider um 1970

Ab 1976 besuchte das Ehepaar Streckenbach regelmäßig internationale Tattoo-Veranstaltungen in den USA. Darunter:

  • First US-Tattoo Convention, Houston (TX), 24.–25. Januar 1976, veranstaltet von Lyle Tuttle & David Yurkew
  • ITAA Second World Tattoo Convention, Reno (NV), 29.–30. Januar 1977, organisiert von der ITAA
  • First National’s Convention, Denver (CO), 23.–25. März 1979
  • Fifth World Tattoo Convention, Sacramento (CA), 8.–13. Januar 1980, ausgerichtet vom North American Tattoo Club (NATC)
  • 2nd National’s Tattoo Convention, Reno (NV), 27.–29. März 1981, Veranstalter: NATC
  • 3rd National’s Tattoo Convention, Tysons (VA), 12.–14. März 1982, ebenfalls durch den NATC organisiert
Fotos der „ITAA - Second World Tattoo Convention“ 1977 in Reno, Nevada
Von der „ITAA – Second World Tattoo Convention“ 1977 in Reno, Nevada
Fotos der „ITAA - Second World Tattoo Convention“ 1977 in Reno, Nevada
Von der „ITAA – Second World Tattoo Convention“ 1977 in Reno, Nevada

Reisen, Medien & Kontakte

Ella übernahm meist den administrativen Teil und pflegte den Kontakt mit den Medien.

Fotos belegen ihre enge Verbindung mit Peter Anton von Arnim, einem Islamwissenschaftler und langjährigen Wegbegleiter. Er war seit ca. 1972 Kunde bei den Streckenbachs, hat sie jedoch auch auf zahlreichen Reisen begleitet.

Ella in Begleitung des Islamwissenschaftlers Peter Anton von Arnim
Ella in Begleitung des Islamwissenschaftlers Peter Anton von Arnim
Ella 1979 vor dem Sunset Strip Studio von Cliff Raven, das er 1976 von Lyle Tuttle übernommen hatte.
Ella 1979 vor dem Sunset Strip Studio von Cliff Raven, das er 1976 von Lyle Tuttle übernommen hatte.
Im Studio des ersten Tätowierers der Schweiz, Dietmar 'Dischy' Gehrer, 1976 Rheineck/Schweiz.
Im Studio des ersten Tätowierers der Schweiz, Dietmar ‚Dischy‘ Gehrer, 1976 Rheineck/Schweiz.

Ella lebte ein selbstbestimmtes Leben. Neben Tattoos und Piercings bewegte sie sich auch in der Fetischszene. Auf einem Foto ist sie im Gespräch mit Ethel Granger, einer Ikone körperlicher Modifikation, zu sehen.

Im September 2011 widmete die italienische Ausgabe der Modezeitschrift Vogue Ethel Granger eine Ausgabe. Granger (1905-1982) hält den Rekord für die kleinste Taille mit 13 Zoll und hatte für ihre Zeit ungewöhnliche Piercings.

Ella im Gespräch mit Ethel Granger
Ella im Gespräch mit Ethel Granger

Eine besondere Begegnung

Am 24. Januar 1975 war ich volljährig geworden und am 25. Januar besuchte ich in Hannover ein Kunst-Happening. Dort stellte der deutsche Künstler Timm Ulrichs „Standard-Motive aus den Muster- und Vorlage-Büchern der Tätowierer“ aus.

Er hatte sich Samy Streckenbach dazugeholt, da dieser ihn bereits 1971 zum Anlass der „Experimenta 4“ in Frankfurt im Rahmen einer Kunstaktion tätowiert hatte. Zu der Aktion befinden sich in meiner Sammlung einige Fotodokumente, die auch Ella Streckenbach zeigen.

Unten Streckenbach beim Tätowiervorgang, rechts Timm Ulrichs. Oben rechts -in weißer Bluse- Ella im Gespräch mit dem Direktor des Kunstvereins Hannover Dr. Leppien
Unten Streckenbach beim Tätowiervorgang, rechts Timm Ulrichs. Oben rechts -in weißer Bluse- Ella im Gespräch mit dem Direktor des Kunstvereins Hannover Dr. Leppien

Es wurde noch eine Person gesucht, die sich vor laufender Kamera tätowieren lassen würde. Eine gute Chance um zu einer Maschinentätowierung zu kommen, dachte ich und meldete mich. Die Frage nach der Volljährigkeit konnte ich aufgrund der Gesetzesänderung vom 1.1.1975 – zuvor wurde man erst mit 21 Jahren volljährig – bejahen. Ich nahm also Platz und Samy begann sein Prozedere.

Nachdem Samy mit dem Kunstwerk fertig war und ich noch einige Fragen der anwesenden Medienvertreter beantwortet hatte, begab ich mich Richtung Ausgang. Dort fing Ella mich ab. Sie reichte mir eine Visitenkarte und sagte: „Junger Mann, besuchen Sie uns doch einmal in Frankfurt.“ Ich befolgte ihren Rat noch im selben Jahr und daraus resultierte eine langjährige Freundschaft.

Ella genoss ihren letzten Urlaub im März 1982 in den USA.
Ella genoss ihren letzten Urlaub im März 1982 in den USA.

Ellas letzte Jahre

Im März 1982 reiste Ella ein letztes Mal in die USA. Im August 1982 erlitt Ella einen Schlaganfall. Sie wurde in das Rot-Kreuz-Krankenhaus (RKK) in Frankfurt am Main eingeliefert und intensiv betreut. Samy verfasste ab dem 7. August 1982 ein handschriftliches Tagebuch mit 190 Seiten. Die Aufzeichnungen enthalten zumeist sehr persönliche Eintragungen zu Ellas Krankheitsverlauf und seinem eigenen Befinden.

Hier ein von mir sorgsam ausgesuchter Eintrag zum 21. September 1982:

„Habe mein Studio geschlossen und zittere wie Espenlaub! Gegen 11 Uhr ins RKK marschiert. Ella bat um eine Zigarette und meinte, „Ich sterbe sowieso“. Ich versuche alles, um ihre im Verborgenen gehaltenen Kräfte zu mobilisieren, aber sie lächelte nur wie wissend und verfiel dann wieder in die gewohnte Schlafhaltung. Kein Wort mehr, nur Anklammern an meine Hand und zum ersten Mal, seit sie den Schlaganfall hatte, sah ich eine Träne über ihre Wangen rollen. Es hat mir fast das Herz gebrochen und ich hatte das Gefühl, dass wir trotz ihres Schweigens die innere Verbindung immer noch haben.“

Am 12. August 1983 um 15:15 Uhr verstarb Ella Streckenbach im Maingau-Krankenhaus in Frankfurt am Main. Zur Beerdigung kam noch einmal das „Who is Who“ der damaligen Tattoo-Szene in Frankfurt zusammen. Ellas Bekannt- und Beliebtheit war offensichtlich sehr groß. Die Danksagungskarte, die ich im September 1983 von Samy erhielt, befindet sich noch heute in meiner Sammlung.

Ein Abdruck dieser Karte erschien in der „The Tattoo Historian“ – einem kleinen Magazin, das vom Tattoo Art Museum, Judy Tuttle herausgegeben wurde.
Ein Abdruck dieser Karte erschien in der „The Tattoo Historian“ – einem kleinen Magazin, das vom Tattoo Art Museum, Judy Tuttle herausgegeben wurde.

Danke, Ella Streckenbach!

Ohne das beharrliche Zutun Ella Streckenbachs 1975 wäre ich vermutlich nicht derart in die Tattoo-Szene involviert, wie es schlussendlich gekommen ist. Danke, Ella!

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