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Die tätowierten Damen der Belle Époque

Belle Époque, frz. für „Schöne Epoche“ (19. – 20. Jahrhundert)
Inhalt
- Wie es begann
- Nora Hildebrandt
- Irene Woodward – „La Belle Irene“
- Maud Arizona – „Suleika, das tätowierte Wunder“
- Darstellung in der bildenden Kunst
- Spätere Rezeption
- Resümee
- Quellen
Von den tätowierten Schaustellerinnen in „Freakshows“¹ des späten 19. Jahrhunderts über die „tätowierten Damen“ in Varieté-Veranstaltungen der goldenen Zwanziger bis hin zu den Tattoo-Supermodels des 21. Jahrhunderts war es ein langer von Vorurteilen geprägter Weg.


Ein Zitat aus dem Jahre 1911 belegt die damals herrschende Einstellung der Obrigkeit gegenüber tätowierten Personen. „Auf allen Jahrmärkten und Ausstellungen, so auch auf dem Münchner Oktoberfest, können wir tätowierte weibliche Personen sehen. Sie haben sich der Qual der mit der Tätowierung verbundenen Schmerzen unterworfen, um später ihren Körper gegen Geld zu zeigen. Man bekommt gewöhnlich nur die Arme und Beine, höchstens den Hals zu sehen – ich zweifle nicht, daß bei solchen Frauen auch Rücken und Bauch tätowiert sind, aber man bekommt die bedeckten Stellen nicht zu sehen, denn die Polizei erlaubt es nicht!“.⁵ Zu dieser Zeit wachte die Polizei akribisch genau über Fehlverhalten im Varieté- und Schaustellungsmilieu. Im Jahr 1911 verbot die Berliner Polizei die öffentliche Schaustellung einer volltätowierten Dame.⁶
Ab 1935 wurde es auch für tätowierte Damen immer schwieriger ein Engagement zu erhalten, denn die Nationalsozialisten begannen mit ihren Säuberungsaktionen. 1938 ordneten sie per Runderlass an:
Schaustellungen …, die das gesunde Volksempfinden verletzen oder den Bestrebungen des Nationalsozialistischen Staates widersprechen, werden unterbunden.
In diese Kategorie ordnete man unter anderem „Schaustellungen von ekelerregenden menschlichen Abnormitäten“, wozu auch Tätowierte gerechnet wurden.⁷

Im Großen und Ganzen scheint mir die Tätowierung ihren subversiven Ruf ab den 1980er Jahren weitestgehend abgelegt zu haben. Sie ist quer durch die Bevölkerung zu einem Statement für Ästhetik und Individualismus geworden. Bereits wenige Minuten Instagram-Feed-Scrollen machen schnell klar, dass Tätowierungen allgegenwärtig sind, auch in der Unterhaltung.
Zu den frühen Örtlichkeiten für Unterhaltung gehörten ab ca. 1880 auch sogenannte Freakshows auf Jahrmärkten und im Zirkus, in denen unter anderem auch die sogenannten „tätowierten Damen“ auftraten. Ab dem späten 20. Jahrhundert tauchen immer mehr Tattoo-Models auf, die sich unter anderem im Reality-TV, in sozialen Netzwerken oder auf einer Tattoo-Convention zeigen. In gewisser Weise haben die Frauen, die sich bereits im 19. Jahrhundert großflächig Tattoos stechen ließen und damit selbstbewusst öffentlich auftraten, die heutige Tattoo-Unterhaltungsindustrie mitbegründet.

Vielen Veranstaltungen dieser Art war sicherlich ein gewisser voyeuristischer Charakter zu eigen. In einer Zeit, in der die Massenmedien noch nicht geboren waren, war ein großflächig tätowierter weiblicher Körper und dessen ungehinderter Anblick ein äußerst spektakuläres Erlebnis und stellte für das Publikum eine echte Sensation dar. Der Erfolg der Veranstaltungen stand sicherlich auch in direktem Zusammenhang mit den beschränkten Erlebnismöglichkeiten der Zeit.
Die Sprechstallmeister⁸ und Koberer⁹ der Veranstaltungen erfanden stetig neue „Anreißer“: „Hier zu sehen ist die schönste Gemäldeausstellung der Welt. Das Ausstellungslokal ist besonderer Besichtigung wert!“¹⁰
Nora Hildebrandt
Zu den frühen tätowierten Schaustellerinnen zählt die in England geborene Nora Hildebrandt (*1857 als Nora Keaton; †1893). Sie hatte jedoch nur eine ziemlich kurzlebige Karriere beim Zirkus „Barnum & Baillys“, wo sie sich auf der Bühne präsentierte.

Ihre Tätowierungen stammen von dem deutschen Matrosen und Tätowierer Martin Hildebrandt¹¹ (* 1825; †16. Januar 1890), der später Noras Lebensgefährte wurde.¹² „Old Martin“¹³ machte sich einen Namen mit der Tätowierung einiger der frühesten tätowierten Attraktionen, die für das „Bunnell’s Dime Museum“ in der Bowery geschaffen wurden.¹⁴
Er war sehr wahrscheinlich der Mentor des Tätowierers Sam O’Reilly und soll 1846 das erste Tattoo-Studio in New York City eröffnet haben.¹⁵
Die US-Amerikanische Tattoo-Geschichte hat offensichtlich ihre Wurzeln in Deutschland.
Irene Woodward – „La Belle Irene“
Irene Woodward (*1857 als Ida Levina Lisk; † 1915), die als La Belle Irene auftrat, nahm schon bald den Platz von Nora Hildebrandt ein, da das Management sie für attraktiver hielt.

Irene Woodward wurde am 24. August 1857 als Ida Levina Lisk geboren. Sie entstammte einer Arbeiterfamilie, der Vater war Schuhmacher. Am 22. Oktober 1877 heiratete sie in Philadelphia, Pennsylvania, USA George E. Woodward.¹⁶
Es gibt in der Literatur einige Unstimmigkeiten darüber, wer die erste öffentlich auftretende tätowierte Dame war – Irene Woodward oder Nora Hildebrandt. Fest steht, es begannen beide im Jahr 1882 mit ihrer öffentlichen Selbstdarstellung. Einige Publikationen führen an, dass die Tätowierungen der La Belle Irene von Samuel O’Reilly und Charlie Wagner aus New York City durchgeführt wurden. Es gibt jedoch auch Meinungen, dass Martin Hildebrandt ihre Tätowierungen erstellt hat. Das Studio von Martin Hildebrandt war nicht weit von O’Reilly und Wagner entfernt und, ob es eine Art Wettrennen zwischen diesen Tätowierern gab, um die erste tätowierte Dame zu produzieren, bleibt offen. Irene kokettierte mit einer ähnlichen mythischen Bühnenbiografie wie Nora. Auch sie wurde – so wie Nora – angeblich von ihrem Vater tätowiert. Nur, dass ihre Tätowierungen sie angeblich vor Übergriffen durch indigene Gruppen schützen sollten. Ich halte das für eine vage verschleiernde Fabel. Mit dem Thema Inzest und Flucht vor „Wilden“ wird hier durch geschickte Methoden mit den Ängsten und Hoffnungen der Epoche gespielt.
Zu den Tätowierungen der La Belle Irene führte der New Zealand Herald im Jahr 1882 einmal aus «About the neck is a garland of flowers about which hover butterflies. Upon each shoulder is a representation of the setting sun, and innumerable stars are worked on different parts of the skin. A beehive is worked upon the left arm, around which is fluttering a swarm of bees. Over the hive is « Never Despair » and « Nothing without Labour » is under it. The right arm bears an American eagle with the inscription, « I live and die for those I love ». A harp enclosed in shamrocks, hands in the grasp of friendship, wreaths of flowers and curious devices are also worked upon the arm. On different parts of the body are figures representing Faith, Hope and Charity, a sailor leaving home, Atlas, birds, rabbits, the Goddess of Hope, angels, swans pursued by a swimming boy, a wheat field, two ships in action, the sailor’s return, an Indian’s head and numerous others»¹⁷
Zu ihrer Zeit war Irene Woodward derart bekannt, dass sie weltweit in 35 Wachsfigurenkabinetts ausgestellt wurde. Ab 1890 trat sie mehrfach in Deutschland auf, so zum Beispiel im „Castans-Panoptikum“ in Berlin¹⁸, in „Hornhart´s Concert Garden“ auf St. Pauli¹⁹ und ab 1891 in München und Wien. Im Jahr 1904 ging sie mit P.T. Barnum nach Russland, wo sie dem Zarenhaus vorgestellt wurde. Woodward wurde vielfach auf lithographierten Postern und Fotografien verewigt.

Irene Woodward starb am 9. Oktober 1915 an einem Krebsleiden. Es gibt widersprüchliche Berichte zwischen Magenkrebs oder Gebärmutterkrebs. Es wurde teilweise behauptet, dass „das Gift der Tätowierungszeichen, die sie am ganzen Körper getragen hatte“, die Ursache ihrer Krankheit war. Diese Aussage ist meiner Meinung nach nur ein weiteres von vielen Beispielen für die Missbilligung von Tätowierungen durch die Gesellschaft.
Aber auch dafür, dass Frauen selbst die Kontrolle über ihren Körper und ihr Leben haben wollten. Gemischt mit ein bisschen Sensationslust, um die Geschichte zu verkaufen. Vorgänge, mit denen wir es in ähnlicher Weise auch heute noch zu tun haben.
Nora und Irene reisten beide während ihrer Karrieren ausgiebig durch die USA. Zusätzlich zu den US-Touren verbrachte Nora mehrere Monate in Mexiko und lebte für längere Zeit in Frankreich und Deutschland. Irene lebte mehrere Jahre in Paris und reiste in ihrer dreißigjährigen Karriere mehrfach nach Deutschland und Russland.
Wenn sie mit einem Zirkus auf Tournee ging, verdiente die durchschnittliche tätowierte Dame in der Regel etwa 100 bis 200 US-Dollar pro Woche. Ähnlich wie die Top-Darstellenden, die Berichten zufolge zwischen 125 und 250 Dollar pro Woche verdienten, je nach Show, ihren Fähigkeiten und der Popularität ihrer Nummer. Im Vergleich dazu verdiente der durchschnittliche arbeitende Mann oder die arbeitende Familie um die Jahrhundertwende laut Alice Kessler-Harris, Autorin von „Out to Work“, etwa 5 bis 12 US-Dollar pro Woche.
Der rasche Aufstieg der Massenunterhaltung ermöglichte es den tätowierten Damen, überdurchschnittlich erfolgreich zu werden und zu den ersten Frauen zu gehören, die im Amerika des 19. Jahrhunderts Selbstständigkeit, gleichen Lohn und größere soziale Freiheit genossen. Zu einer Zeit, als Frauenrechte gerade erst zu einem öffentlichen Thema wurden.
Nora und Irene schufen nicht nur eine neue Karrieremöglichkeit für Frauen aus der Arbeiterklasse, sondern waren auch zwei der ersten freidenkenden Frauenfiguren dieser Zeitspanne. Es ist klar, dass diesen Frauen mehr Möglichkeiten und Freiheiten gewährt wurden als den meisten anderen. Darüber hinaus demonstrierten sie ihre eigene freie Wahl und Freiheit auf eine Art und Weise, die sie zu historisch wichtigen, aber übersehenen Beispielen für zwei der ersten unabhängigen Karrierefrauen in den USA macht.²⁰
Die Nora und Irene nachfolgenden tätowierten Damen, wie zum Beispiel Maud Arizona (1888-1963) gehören zu den belegt ersten wirklichen Tattoo-Künstlerinnen mit umfangreicher Fangemeinde und Autogrammkarten, vergleichbar mit berühmten tätowierten Frauen unserer Zeit. Nur, dass es um 1900 eine Hand voll waren und heute gibt es sie gefühlt so häufig wie Sterne am Himmel.
Maud Arizona – „Suleika, das tätowierte Wunder“
Maud Arizona wurde 1888 unter dem Namen Genovefa Weisser, vermutlich in Löchau (Lachov) / Bezirk Braunau (Königreich Böhmen) geboren.²¹ Genovefa zog als junge Frau nach Wien und war dort als Hausangestellte beziehungsweise als Stubenmädchen tätig. Ihr Bühnen-Debüt gab Maud Arizona am 1. März 1912 im Wiener „Palais de danse“ in der Weihburggasse 11. Sie trat damals im Rahmen eines Programmes auf, das eine „Apotheose internationaler Frauenschönheit“ darstellen sollte.²²

Fotoabzüge aus dem Fotoalbum des Tätowierers Johann „Hans“ Ullrich (1909-1957), Sammlung Kohrs Wedemark (digital aufbereitet von Feelfarbig)
Dort lernte sie um 1900 ihren zukünftigen Ehemann Siegmund Forst kennen, mit dem sie 1912 zunächst nach Berlin und später nach Dortmund ging. Während Forst im Ersten Weltkrieg als Soldat in Montenegro diente, machte sie die Bekanntschaft des Dortmunder Schaustellers und Tätowierers Kurt (bzw. Rudolf) Schulz²³. Genovefa trat seiner Schaustell-Truppe bei und ließ sich von ihm großflächig tätowieren.²⁴
Die farbig ausgeführten Motive wurden durch Efeuranken miteinander verbunden. Die Brust zierte mittig ein Engel, auf dem Bauch befand sich ein Frauen-Paar mit US Fahne, auf den Armen waren Porträts, Figuren oder kleine Szenen und vor allem Ranken abgebildet. Am rechten Schenkel waren ein Segelschiff, eine Reiterin, ein Mann mit einem Krückstock eingestochen, am linken Schenkel ein Leuchtturm, zwei Putten, ein Stern sowie die typischen Ranken.²⁵ Den Rücken zierte u.a. eine Kirche, flankiert von zwei Sphinxen, darunter ein Adler, der eine Weltkugel hält, flankiert von der deutschen Reichskriegsflagge und der US-Fahne.²⁶
So verziert trat Genovefa bei Zirkusvorstellungen, Slideshows und in Schulz‘ Varieté-Vorstellungen auf. Schulz verstand es, sie perfekt zu inszenieren und zu vermarkten und so wurde sie um 1920 unter dem Namen „Maud Arizona“ eine Berühmtheit. Ab dem Jahr 1922 sind Auftritte von ihr im „Nouveau Cirque de Paris“ in der Rue Saint-Honoré belegt. Mit dem Zirkus „Sarrasani“ bereiste sie um 1924 auch Argentinien, jedoch ohne Schulz.²⁷
Der Beiname „Suleika, das tätowierte Wunder“²⁸ sollte ihre Reize zusätzlich betonen. Von ihr wurden auch werbende Postkarten, sogenannte Andenkenkarten, gedruckt.²⁹ Mehrere Aufnahmen von ihr befinden sich in der „Heidelberger Sammlung“ des Dermatologen Walther Schönfeld, einer der bedeutendsten zum Thema Tätowierung im deutschsprachigen Raum.
Mit ihm waren Genovefa und Schulz auch persönlich bekannt.³⁰ Aus Schönfelds schriftlichen Anmerkungen geht hervor, dass Genovefa auch mit einem tätowierten Schausteller namens Rustahn oder Rouston (Raimund Rolof oder Rolof-Ofawa) reiste und mit ihm als angebliches Geschwisterpaar auftrat.³¹ Einige Andenkenkarten und Fotografien von ihr, darunter auch eine seltene Aufnahme, die den Rücken zeigt, befinden sich in meiner Privatsammlung.³²

Darstellung in der bildenden Kunst
Der deutsche Expressionist Otto Dix lernte sie unter ihrem Künstlernamen Maud Arizona kennen. Ob er sie gemeinsam mit Otto Griebel beim Besuch eines Bierlokals in Düsseldorf³³, im Zirkus Busch in Hamburg oder im Zirkus Sarrasani in Dresden traf, ist ungeklärt.³⁴
Martha Dix schreibt in einem Brief vom 31. März 1981, dass sich ihr Mann „für Tätowierungen sehr interessiert hat; er kaufte von solch einem Meister seines Fachs ein Modellbuch mit seinen primitiven Vorlagen ab.“³⁵ Der Schausteller, Zirkusringer und Tätowierer Karl Finke fertigte sein Buch No. 9 gegen Ende des Ersten Weltkriegs an.
Laut der Kunsthistorikerin Eva Karcher „handelt es sich bei Suleika um die tätowierte Dame Maud Arizona“. Die Kunsthistorikerin Cecilia De Laurentiis führt aus, der Einfluss Karl Finkes auf das Werk von Otto Dix sei auch im Gemälde Der Fleischerladen erkennbar. Auf dem Arm eines der dargestellten Metzger ist ein Rinderkopf mit zwei überkreuzten Hackbeilen tätowiert. Dieses Motiv lässt sich eindeutig auf eine Zeichnung Finkes zurückführen, die sich sowohl in Buch No. 9 als auch in Buch No. 3 findet.³⁶
Dix verewigte Maud Arizona 1920 auf einem Ölgemälde in der Pose der antiken Venus.³⁷ Er bediente sich auch bei diesem Bild der ihm eigenen Mittel der Satire, Groteske und Verfremdung. Maud Arizona wird auf einem Podest auf einer Bretterbühne stehend dargestellt. Bis auf weiße Lackschuhe mit Absatz und einem roten Slip ist sie unbekleidet. Ihre in gezierter Pose zum Kopf erhobene rechte Hand berührt die sorgsam gelegte Wasserwellenfrisur. Detailverliebt sind ihre über Beine, den gesamten Torso und Arme verteilten Tattoos mit Motiven aus der Welt der Matrosen und des Zirkus ausgeführt.³⁸
Im Vergleich mit den vorhandenen Fotografien³⁹ fällt mir auf, dass die von Dix gemalten Tätowierungen nicht mit denen der realen Maud Arizona übereinstimmen. Ebenfalls abweichend sind auf dem Gemälde die Handoberflächen und der gesamte Hals mit Tätowierungen bedeckt. 1921 stellte Dix das Gemälde in der Abteilung der Novembergruppe bei der Großen Berliner Kunstausstellung aus.⁴⁰
Heute befindet sich das Bild vermutlich in einer italienischen Privatsammlung,⁴¹ ist jedoch als Plakat im virtuellen Rundgang in der Ausstellung „Christian Warlich. Digital Exhibit Pt II“ zu sehen.⁴²
Dix stellte sie auch in zwei verschiedenen Fassungen in einer Kaltnadelradierung als „Maud Arizona; Suleika, das tätowierte Wunder“ in seiner „Zirkus“-Mappe mit Artisten-Darstellungen von 1922 dar,⁴³ die mit einer Auflage von 50 Exemplaren im Eigenverlag erschien. Die Komposition ist der des Gemäldes ähnlich, allerdings fehlt das Podest, und die Frauengestalt fixiert scheinbar den Betrachter.⁴⁴
Die Radierungen sind in einigen bekannten öffentlichen Sammlungen vertreten, wie dem „Museum of Modern Art“⁴⁵ in Manhattan, dem „Los Angeles County Museum of Art“, dem „Virginia Museum of Fine Arts“, dem „Museo Nacional de Bellas Artes“ in Chile, dem „Museum Kunstpalast“ in Düsseldorf,⁴⁶ der „Städtischen Galerie Dresden“⁴⁷ oder dem „Museum Gunzenhauser“ der Kunstsammlungen Chemnitz.⁴⁸ In den Jahren 2018/2019 war eine Radierung in der Berlinischen Galerie zu sehen.⁴⁹
Auch hier fällt mir auf, dass sich Dix nicht annähernd an die Anordnung der Tätowierungen am Körper von Maud gehalten hat. Zum Beispiel zeichnete Dix das Segelschiff, das bei ihr am rechten Oberschenkel tätowiert war, auf den Bauch. Den Adler mit Weltkugel und Fahnen transferiert er vom Rücken auf die Brust.

Spätere Rezeption
Der Dokumentarfilm „Zum ewigen Andenken“ über das Leben von Genovefa Forst, geb. Weisser, wurde am 9. November 2013 mit anschließender Podiumsdiskussion im Rahmen der 37. Duisburger Filmwoche aufgeführt. Anhand von Familienfotos und Archivmaterial dokumentierte der Künstler Christian Dünow das Leben seiner Urgroßmutter. Die Journalistin, Redakteurin und Kuratorin Cristina Nord befand, der Film erzähle als Zeitdokument „auch über ausgestorbene Unterhaltungsformen, von Freakshows und Flohzirkussen“.⁵⁰
Resümee
Vergleicht man diese frühen Beispiele tätowierter Frauen mit der Gegenwart, hat sich nicht viel verändert. Im auslaufenden 19. Jahrhundert war es die Bühne einer Freakshow oder die Arena von einem Zirkus; heute sind es das Reality-TV und soziale Netzwerke.
Bei allen handelt es sich um Unterhaltungsplattformen der jeweiligen zeitgenössischen Kultur. Früher kaufte das Publikum bei Freakshows Fotografien und Autogrammkarten dieser Damen und einige legten ganze Sammlungen an. Sie waren das Pendant zu den heutigen Instagram-Followern der tätowierten Damen.
Auch die Motivation hat sich meines Erachtens nicht geändert. Der weibliche Körper wurde damals – vielfach heimlich – als Fotokarte herumgereicht und in ein Album geklebt; heute wird „gepostet“, „geliked“ und digital gespeichert. Dem Ganzen lag und liegt sicherlich auch eine gewisse Sexualisierung zugrunde, denn viele Tätowierte trugen und tragen auf der Bühne knappe Outfits und präsentieren freizügig ihren Körper bzw. ihre Tätowierungen. Die Parallelen zwischen heutigen Tattoo-Models und den tätowierten Damen von früher sind klar erkennbar.
Wer hätte sich vor 30 Jahren vorstellen können, dass man einmal so seinen Lebensunterhalt verdienen kann oder gar berühmt wird? Mir ist zumindest ein Fall bekannt, bei dem eine Frau aus dem New York der 1920er Jahre ihren Beruf gewechselt hat und von einer Sekretärin zur tätowierten Dame wurde, weil sie als Darstellerin bei den Freakshows einfach mehr Geld verdienen konnte.
Die Bildkarten und Plakate der tätowierten Damen der Belle Époque haben bereits ein Jahrhundert überdauert und sind in bedeutenden Museen ausgestellt. Heute sind es vor allem digitale Medien, die die Tattoo-Kunst und ihre Modelle sichtbar machen – wie nachhaltig diese Formen der Darstellung sein werden, bleibt abzuwarten.
– Manfred Kohrs
Bücher von Manfred Kohrs
Aktuell sind die folgenden Bücher von Manfred Kohrs hier erhältlich:

1920 Großbritannien / Schottland
Vorlagen von ca. 1920-1925
ISBN 978-3-00-076408-0
Tätowier-Vorlagenbuch
Horst „Samy“ Streckenbach (1925-2001)
Replika des Motivalbums von Samy Streckenbach mit Vorblättern und 80 Flashbögen
ISBN 978-3-00-077932-9
Bald erhältlich:
Tattoo-History (No.1)
Tattoo-Artists go Public
US-Conventions 1976-1988
ISBN 978-3-911819-00-8
Quellenverzeichnis
-
- In Deutschland zumeist als Abnormitäten-Schau bezeichnet.
- * 10. Dezember 1870 in Brünn, Mähren, Österreich-Ungarn; † 23. August 1933 in Kalksburg bei Wien, Niederösterreich; heute Teil von Wien
- Adolf Loos: Ornament und Verbrechen, 1908. In: Adolf Loos: Sämtliche Schriften in zwei Bänden – Erster Band, herausgegeben von Franz Glück, Wien, München: Herold 1962, S. 276–288.
- Marie-Luise Klees-Wambach: Kriminologische und kriminalistische Aspekte des Tätowierens bei Rechtsbrechern. Unveröffentlichte Dissertation, Jura, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg 1976.
- L. Stieda: Etwas über Tätowierung. – ln: Wiener Medizinische Wochenschrift LXI (1911). S. 896.
- Leipziger Rundschau vom 5.2.1911.
- Riesendamen 1935; Oettermann 1985 a.S. 91f.
- Der Sprechstallmeister fungiert während einer Zirkusvorstellung als Ansager und Regisseur, der das Publikum, einem Moderator ähnlich, durch die Veranstaltung führt.
- Der Koberer ist ein Türsteher oder Portier, der Kunden von der Straße zum Besuch einer Vergnügungsstätte auffordert.
- Walter Trier: Die tätowierte Dame. (Lustige Blätter 1927), in Lang 1972, S. 151.
- Nora nahm seinen Nachnamen an und wurde daraufhin mehrfach für Hildebrandts Tochter oder Ehefrau gehalten, war aber in Wirklichkeit in England geboren und weder mit Martin verheiratet noch mit ihm verwandt.
- Amelia Klem-Osterud: The Tattooed Lady: A History. In: Golden, Colorado: Speck Press, 2009, p. 39–42.
- Der Spitzname „Old Martin“ ist in einem Zeitungsartikel: Über New Yorker Tätowierkünstler in der New York Evening Post vom 1. Februar 1898 dokumentiert.
- Amelia Klem Osterud: The Tattooed Lady. Maryland: Taylor Trade Publishing 2014. p. 42.
- Kelly Gibson: A Short History of Military Tattoos, VFW Magazine, vol 103, no. 10 (August 2016), p. 44.
- Historical Society of Pennsylvania; Philadelphia: Historic Pennsylvania Church and Town Records; Reel: 132.
- New Zealand Herald, Auckland 20. Mai 1882, New York Truth.
- Castans Panopticum war ein Berliner Wachsfigurenkabinett. Inhaber des mit Madame Tussaud vergleichbaren, von 1869 bis 1922 bestehenden Panoptikums waren die Gebrüder Louis (1828–1908) und Gustave Castan (1836–1899). Neben dem Hauptgeschäft in Berlin gab es Ableger in Köln, Frankfurt am Main, Dresden, Breslau und Brüssel. Die Panoptiken Castans zählten zu den bekanntesten Wachsfigurenkabinetten in Deutschland.
- „Hornhardt´s Etablissement“ war auf dem Spielbudenplatz in Hamburg St. Pauli eine großzügige Anlage mit Gartenwirtschaft, Musikmuschel, Konzertsaal und Aussichtsturm.
- Emily La France: The Tattooed Lady and the Nineteenth-Century American Traveling Circus. Washington State University 2016, S. 22-23.
- Christian Dünow: Zum ewigen Andenken. Skript zur Diplomarbeit, Dokumentarfilm 2013, 26 min., zur Biografie von Genovefa Forst, Urgroßmutter von Christian Dünow.
- Neues Wiener Tagblatt (Tages-Ausgabe Nr. 59) vom 1. März 1912, Vergnügungsanzeiger, Seite 16.
- Igor Eberhard: Tätowierte Kuriositäten, Obszönitäten, Krankheitsbilder? Die Heidelberger Sammlung Walther Schönfeld unter besonderer Berücksichtigung von Tätowierungen und ihren tattoo narratives. Band 1 v. 2, Universität Wien, 2015, vgl. dort Fußnote 127, S. 159.
- Nadine Voß: Zum ewigen Andenken von Christian Dünow DE 2013 | 23 Min. In: Protokult. Duisburger Protokolle vom 9. November 2013.
- Igor Eberhard: ebd. S. 466.
- Fotoabzüge 1129/2, 1129/3 aus dem Fotoalbum des Tätowierers Johann „Hans“ Ullrich (1909-1957), Sammlung Kohrs Wedemark
- Adolf Spamer: Die Tätowierung in den deutschen Hafenstädten. G. Winters Buchhandlung, Bremen 1934, S. 35.
- Kunkel Fine Art: Maud Arizona (Suleika, das tätowierte Wunder).
- Christa Sigg: Der Maler und die tätowierte Venus aus dem Varieté In: Augsburger Allgemeine vom 9. Juli 2020.
- Igor Eberhard: Tätowierte Kuriositäten, Obszönitäten, Krankheitsbilder? Die Heidelberger Sammlung Walther Schönfeld unter besonderer Berücksichtigung von Tätowierungen und ihren tattoo narratives. Band 1 v. 2, Universität Wien, 2015, S. 159, 440, 467.
- Igor Eberhard: ebd. S. 439, 477, 480.
- Archiv der Sammlung Kohrs Wedemark; NHS-MK-060,104_1189/3.
- Jung-Hee Kim: Frauenbilder von Otto Dix: Wirklichkeit und Selbstbekenntnis. LIT Verlag Münster 1994, ISBN 9783894739393, S. 31.
- Kunkel Fine Art: Maud Arizona (Suleika, das tätowierte Wunder). Christa Sigg: Der Maler und die tätowierte Venus aus dem Varieté. In: Augsburger Allgemeine vom 9. Juli 2020.
- Eva Karcher: Eros und Tod im Werk von Otto Dix: Studien zur Geschichte des Körpers in den zwanziger Jahren. LIT Verlag Münster, 1984, ISBN 9783886601042, S. 21
- Cecilia De Laurentiis: Der Tätowierer Karl Finke. In: Ole Wittmann (Hrsg.): Karl Finke: Buch No. 3. Ein Vorlagealbum des Hamburger Tätowierers/A Flash Book by the Hamburg Tattooist. Henstedt-Ulzburg: Nachlass Warlich 2017, ISBN 978-3-000-56648-6, S. 131–134.
- Eva Karcher: ebd. S. 27
- Kunkel Fine Art: Maud Arizona (Suleika, das tätowierte Wunder).
- Fotoalbum aus dem Nachlass Streckenbach, angelegt von Hans Ullrich. Privatsammlung Manfred Kohrs Wedemark; NHS-MK-060,104.
- Janina Nentwig: „Outsider und Bahnbrecher“. Die Ausstellungen der Novembergruppe 1919 bis 1932. In: Novembergruppe 1918. Veröffentlichungen der Kurt-Weill-Gesellschaft Dessau, Nils Grosch (Hrsg.), Band 10, S. 9, 16. Texte zur Ausstellung Freiheit. Die Kunst der Novembergruppe 1918–1935 in der Berlinischen Galerie 2018/2019.
- Christa Sigg: Der Maler und die tätowierte Venus aus dem Varieté. In: Augsburger Allgemeine vom 9. Juli 2020.
- Virtueller Rundgang der Ausstellung Christian Warlich. Digital Exhibit Pt II. Aus der Ausstellung Tattoo-Legenden. Christian Warlich auf St. Pauli, vom 27. November 2019 bis zum 25. Mai 2020 im Museum für Hamburgische Geschichte. Dr. Ole Wittmann, Nachlass Warlich.
- Julia Silverman: Otto Dix – Maud Arizona: Suleika, das tätowierte Wunder. In: Sang Bleu Magazine, 22. Januar 2014.
- Vgl. Abbildungen in Kunkel Fine Art: Maud Arizona (Suleika, das tätowierte Wunder).
- Museum of Modern Art: Maud Arizona (Suleika, The Tattooed Wonder).
- Deutsche Digitale Bibliothek: Mappenwerk „Zirkus“ – Maud Arizona (Suleika, das tätowierte Wunder).
- Bernd Klempnow: Dresden erwirbt spektakuläre Kunstsammlung. In: sächsische.de vom 16. August 2019.
- In Teilen dem Text zu Maud Arizona der DE-Wikipedia entnommen, zu dem das IDTG Text und Bild beigesteuert hat. Beteiligte Autoren sind hier einzusehen. Besonderer Dank gilt der Hauptautorin Alraunenstern (Pseudonym).
- Janina Nentwig: „Outsider und Bahnbrecher“. Die Ausstellungen der Novembergruppe 1919 bis 1932. In: Novembergruppe 1918. Veröffentlichungen der Kurt-Weill-Gesellschaft Dessau, Nils Grosch (Hrsg.), Band 10, S. 9, 16.
- Nadine Voß: Zum ewigen Andenken von Christian Dünow DE 2013 | 23 Min. In: Protokult. Duisburger Protokolle vom 9. November 2013.
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