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Die Geschichte und Zukunft des Tätowierens: Henk Schiffmacher im Interview
» To the English version of the interview
Im Zuge unserer Rezension des neuen Henk Schiffmacher Buches im TASCHEN Verlag bekamen wir die Gelegenheit mit Henk ein Interview zu führen. Das Angebot nahmen wir selbstverständlich sofort an. Doch da wir nicht nur einfach „mal eben“ anrufen und ein paar Fragen zu seinem Buch stellen wollten, bereiteten wir uns zusammen mit der Tätowiererin Vera Ickler auf das anstehende Telefonat nach Amsterdam vor.
Da Vera nun ein paar Jahre in England gelebt und gearbeitet hatte, bot sie sich als Unterstützung beim englischsprachigen Interview perfekt an. Darüber hinaus fanden wir die Idee schön, dass eine junge Künstlerin den erfahrenen Tätowierer direkt interviewt.
Kurz vorher gingen wir noch ein letztes Mal unsere fein säuberlich zusammengestellten Fragen durch. Wir hatten ja keine Ahnung, wie sehr das spätere Gespräch von unseren Plänen abweichen würde und wie viel Henk wirklich zu erzählen hatte.
Ein einfaches Telefonat. Kein Zoom oder Facetime, ohne viel Schnickschnack und ganz direkt – ein bisschen wie Henk selbst. Er sprach ganz frei aus dem Bauch heraus und war auch mit seinen Ansichten zum Tätowieren, welches ihn nun seit über 40 Jahren begleitet, ganz offen. Hautnah erlebte er die Entwicklung der Tattoo-Industrie mit und gerade deshalb war es eine große Ehre für uns, mit ihm über seine Erfahrungen, das Tätowieren und sein neues Buch zu sprechen.
Hi Henk! Total schön dich kennenzulernen! Danke, dass du dir die Zeit nimmst, um heute mit uns zu plaudern und Glückwunsch zu deinem tollen neuen Buch!
Henk Schiffmacher (HS): Danke euch! Es ist ein ganz schön groß und schwer das Teil, oder? Ich breche mir hier beim Signieren echt einen ab, weil jedes Exemplar knapp 6 Kilo wiegt. Es ist ziemlich anstrengend, jedes einzeln aus der Kiste zu ziehen, zu signieren und wieder zurückzulegen. Wir wollten erst ein etwas anderes Buch geplant und das wäre noch schwerer gewesen – daher ist das hier die etwas handlichere Version. Ich bin ziemlich glücklich, wie es jetzt ist: die Bindung, die Zeichnungen und Illustrationen. Ich liebe es total.
Wie hat deine Sammelleidenschaft begonnen und welche der im Buch gezeigten Sachen liegt dir am meisten am Herzen?
HS: Die Liebe zum Sammeln liegt wohl in meinen Genen und kommt von meinem Vater. Er war nicht nur Metzger, sondern auch Lokalhistoriker. Er wusste genau über die Gebäude und all sowas in der Umgebung Bescheid. Demnach habe ich schon sehr früh angefangen mich auch für Geschichte und vor allem die Natur zu interessieren. Ich bin oft in den Wald gegangen und habe dann Federn und Steine nach Hause mitgebracht und diese Sammlungen mein Museum genannt. Da muss ich fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein.
Bis heute sammle ich, aber es wird immer schwieriger – vor allem mit der enormen Popularität des Tätowierens. Als ich mein erstes Tattoo-Museum hatte, da gab es quasi nur Lyle Tuttle und mich. Heutzutage nennt jeder Hinz und Kunz seinen Laden gleich „Tattoo-Museum“.
Könntest du einen speziellen Gegenstand aus dem Buch benennen, der in deinen Augen die meiste Bedeutung hat?
Henk pausiert kurz und seine Stimme wird merklich schwerer
HS: Naja, manche der Zeichnungen würde ich sagen. Wenn ich mir manche davon anschaue, dann merke ich, wie weit Tätowieren von seinem Ursprung mittlerweile abgekommen ist. Wie weit Tätowieren von dem abgekommen ist, was es eigentlich sein sollte.
Große Firmen drängen sich in die Tattoo-Welt und verkaufen den Leuten dermografische Marker und seltsame, gummierte Rotary-Maschinen, die nur in der oberen Dermis funktionieren. Die Leute machen winzige Porträts mit 40 verschiedenen Hauttönen und nichts davon hat etwas mit Tätowieren zu tun. Das hält doch alles nicht – ganz egal, wie beeindruckend das ist. Ich nenne diese Tätowierer „menschliche Kopiermaschinen“. Es gibt so viele davon. Leute, die Cheyenne und Co benutzen.
Ein Tattoo ist ein einfaches Ding, das kommuniziert. Es gibt zurzeit viel zu viele Tattoos, die nicht kommunizieren – vor allem, wenn du mal ein paar Schritte Abstand nimmst. Da kannst du doch gar nicht mehr erkennen, was los ist. Zu viel schwarz und zu viel Drama in der Tätowierung und es wird zu einer seltsamen Kunstform.
Die meisten dieser Leute sollten ihre Sachen lieber zu Papier bringen, statt auf die Haut. Auf Papier bleibt das alles schön so, wie es ist. Der Körper hingegen ist Wind, Wasser, Sonne, Kälte und Schwerkraft ausgesetzt und verändert sich ständig. Der Körper wird mal dicker, mal dünner – der bleibt nicht, wie er ist.
Die simplen Tätowierungen hingegen, die bleiben gut anzusehen. Wenn du dir mal die traditionellen japanischen Sachen auf älteren Herren anschaust, das bleibt alles extrem schön. Die meisten Leute, die moderne Tattoos bekommen, werden sich wundern, wie das aussieht, wenn sie im Altenheim sind. Da laufen dann ganz viele mit verschwommenen Dingern rum.
Und dann gibt es da noch die, die gewollt Fehlkommunikationen senden. Da gibt es Typen in Berlin, die denken, dass sie Action Painter seien und stechen den Leuten so große, schwarze Scheiße mitten ins Gesicht. Als Tätowierer hast du eine Verantwortung deiner Kundschaft gegenüber und solltest niemandem, der grad erst 17 oder 18 Jahre alt ist und sich noch selbst findet, irgendwas Lächerliches ins Gesicht tätowieren.
Spürst du die Spaltung zwischen dem traditionellen und dem modernen Tätowieren oder siehst du da auch Verbindungen? Du scheinst die „moderne“ Art und Weise sehr kritisch zu sehen – gibt es denn auch Sachen, die du daran schätzt und magst?
Henk lacht.
HS: Nicht, dass ihr jetzt denkt, ich würde mich nur beschweren. Aber mal ganz ehrlich und von Herzen gesprochen: das Meiste dieser traditionelleren Vision ist durch die Öffnung der Welt geschlachtet worden. Magazine und Conventions haben da mitgezogen. Bei früheren Conventions gab es keine Preise für Tattoos von jungen französischen Künstlern, die wie Impressionisten arbeiten. Diese Sachen haben kein wirkliches Leben als Tattoo. Du kannst kein dunkles Braun neben ein dunkles Rot packen – das läuft alles ineinander über. Die Magazine haben genau das Gleiche abgedruckt. Und im Hier und Jetzt gibt es dafür noch Pinterest.
Es hat keiner mehr Lust, sein Gehirn anzustrengen. Alle wollen das Gleiche zur gleichen Zeit. Alle wollen einen Kompass oder eine Taschenuhr und dazu zwei Rosen. Die Leute springen total schnell von einem Stil zum anderen. Sachen werden zum Trend und verabschieden sich ebenso schnell wieder – die Unalome, das Unendlichkeitszeichen. Ehrlich gesagt sollte man seine Tätowierungen am besten unter der Kleidung verstecken, damit dir niemand deine gute Idee klauen kann.
Und Tätowierer heutzutage – es gibt so viele und unterschiedliche mittlerweile. Als ich damals anfing, gab es so circa 400 verteilt auf der ganzen Welt. Rechne mal noch vielleicht 400 illegal arbeitende dazu – das sind dann 800 insgesamt. Wir kannten uns aber alle untereinander und haben uns Briefe geschrieben und gegenseitig Bilder zugeschickt . Mit der Globalisierung, Fernsehen und vor allem dem Internet hat sich das total verändert. Das Internet macht aber nicht nur das Tätowieren kaputt, sondern auch viele andere Dinge.
Jetzt gibt es Leute, die kaufen sich für 100 Euro oder noch weniger eine Maschine und stechen sich gegenseitig was auf Geburtstagsfeiern. Ich finde, dass sich Tätowieren in einer schwierigen Lage befindet. Die Regierungen wollen regulieren und große Firmen mit starken Lobbies wollen alle ein fettes Stück von der Torte, weil sie genau wissen, dass es was zu holen gibt.
Das stimmt, eine Menge Leute haben verstanden, dass sie Kapital herausschlagen können.
HS: Es gibt da draußen viele Menschen, die Tattoos haben, aber keine haben sollten. Und genauso gibt es viele Menschen, die tätowieren, aber nicht tätowieren sollten. Vielleicht löst sich das Problem von alleine auf. Die Corona-Pandemie hat viele Leute finanziell in die Enge getrieben, weil sie in teuren Einkaufsstraßen ihre Shops aufgemacht haben – also genau dort, wo die Miete unfassbar hoch ist.
Wir haben in Kellern tätowiert und Shops im Rotlichtviertel aufgemacht, weil uns keiner haben wollte. Wenn du damals tätowiert werden wolltest, dann musstest du in diese Ecken der Stadt und es war einfach aufregend. Da war dann ein Typ mit nur einem Bein und einer großen Narbe im Gesicht, der dich anstarrte – du hast dich aber an das Tattoo und die Umstände erinnern können.
Heute gehst du in irgendeinen Barber Shop, in dem dir eine Frau mit Bart merkwürdige Symbole sticht oder da ist eine Lady, die ihre Haare nicht kämmt und dir was handpoked. Es ist seltsam. Naja, aber am Ende hat es ja doch irgendwie alles mit Tätowieren zu tun, weil da Pigmente in der Haut landen.
Arbeitest du noch so, wie vor 40 Jahren oder was hat sich für dich verändert?
HS: Manchmal drängen dich die Kunden in einen Bereich, den du nicht betreten solltest. Wenn du richtig beschissene Tattoos von mir sehen willst, dann sind es die, bei denen die Kunden was verlangt haben, was ich absolut nicht machen wollte und es trotzdem gemacht habe, weil ich nett sein wollte. Generell möchte ich einfach ein netter Mann sein, aber manchmal sollte man eben genau nicht nett sein. Du kannst doch nicht den ganzen verfickten Tag lang nett und freundlich sein.
Der Körper akzeptiert keine schnurgerade Linie oder einen perfekten Kreis. Und bitte denkt an die Schwerkraft! Alles am Körper hängt irgendwann nach unten – mit Ausnahme des Zahnfleisches: das kriecht nach oben.
Wenn du mal 60 bist, in deinem Campingstuhl sitzt und dann eine lange Schrift auf deiner Körperseite hast, sieht das doch komplett furchtbar aus. Ich will gar nicht von den ganzen Fehlplatzierungen anfangen. Adler fliegen in in die falsche Richtung und Tattoos, die eindeutig auf den Oberarm gehören, landen auf dem Unterarm und so weiter.
Kannst du dich an Momente erinnern, in denen jemand was haben wollte, was du ablehnen musstest?
HS: Meistens sind es die jungen Frauen und Männer, die das Tattoo nicht für jemand anderen haben wollen sondern „nur für sich selbst“. Die wollen es dann so herum, dass sie es selber lesen können. Meistens ist es dann noch eine ziemlich dämliche Nachricht an sich selbst.
Du kommunizierst mit allem, was du tust. Mit deiner Haarfarbe, Schmuck – all das ist Kommunikation mit deinen Mitmenschen. Und plötzlich brauchst du ein Tattoo, um mit dir selbst zu kommunizieren? Führst du Selbstgespräche? Holst du dir einen runter? Frag dich doch mal, ob du das Klingelschild mit deinem Nachnamen an der Außenseite oder an der Innenseite deines Hauses anbringst.
Jetzt müssen wir alle lachen.
Das ist ein interessantes Bild – das sind also Tattoos, zu denen du immer nein sagst?
HS: Jemand kam mal an und wollte „Atme“ auf die Hände gestochen haben – was für ein dummes Motiv, um es auf sich selber zu tragen. Ist das für den Fall, dass du vergisst zu atmen oder was? Ich sage grundsätzlich nein, wenn es „nicht für jemand anderen ist, sondern für mich persönlich“. Das gibt es einfach nicht. Wenn du etwas Dummes kommunizieren willst, dann hast du genau das gerade getan.
Ist doch eine faire Einstellung, wenn du da sagst, dass du das nicht machst. Gibt es denn auf der anderen Seite des Spektrums, abseits von den negativen Aspekt…
Henk unterbricht uns, lacht herzhaft und fragt: „Ihr wollt auch mal was Positives hören, richtig?“ Wir müssen alle lachen und versichern ihm, dass er natürlich sagen kann und soll, was und wie er möchte.
Was fasziniert dich denn am Tätowieren bis heute?
HS: Was mich ehrlich fasziniert ist mitbzubekommen, wie alte und vergessene Formen des Tätowierens zurück in die Welt getragen werden. Maori, Tahitisches Tätowieren, Berber-Tattoos – das kommt alles gerade zurück. Die Leute stürzen sich drauf und machen es zu ihrem eigenen und es entsteht eine Mischung aus Alt und Neu. Mit dem Urpsprung hat es wenig zu tun, dennoch ist es interessant, diese Formen des Tätowierens neu zu beleben.
Hast du eine Idee, wie die Zukunft des Tätowierens aussehen könnte?
HS: Gerade jetzt stecken wir in einer schwierigen Zeit, weil unsere Industrie wie eine Milchkuh gemolken wird. Es gibt sogar Tätowierer ohne Tattoos. Die sind doch wie vegetarische Metzger. Der harte Kern der Tattoo-Szene wird immer da sein. Wir haben es uns selbst zuzuschreiben – wir wollten die traditionellen Formen zurück und nun wird es ausgenutzt.
Es gibt auch ein paar interessante Leute, die in den klassischen Stilen arbeiten, aber generell sind das oft so Menschen, die sich als buddhistische Mönche ansehen und sich ferner Religionen bedienen oder sich generell einfach seltsam verhalten. Die lächeln dich an und spielen dir Mitgefühl vor und sagen, dass du verloren bist, aber sie dir helfen und deine Chakren wieder ins Gleichgewicht bringen können.
Wenn du an deine Anfänge denkst und die Entwicklung…
HS: Ja, ich hab natürlich auch gedacht, ich könnte es besser machen als die alten Typen vor mir und hab mit single needle und Co experimentiert – ich hab das auch alles gemacht. Es ist ein bisschen so, als würdest du in die Scheiße deines eigenen Hundes reintreten.
Du hast die gleichen Fehler gemacht, die du kritisierst und deswegen hast du diese Einstellung?
HS: Ja klar, ich hab die gleichen Fehler gemacht. Meine Frau, die hier neben mir steht, sagt mir gerade, dass ich euch ein fröhlicheres Interview geben soll.
(Wir müssen alle lachen).
Sie sagt, ich soll auch mal was Nettes erzählen. Wir leben in einer fantastischen Welt, ganz ehrlich. Meine Frau hatte vor ein paar Tagen Geburtstag und es haben uns 1500 Glückwünsche aus aller Welt erreicht! Leute aus Borneo, Neuseeland, Japan, Russland – das ist unsere Welt! Wir haben Freunde überall. Das ist fantastisch.
Wie schön! Von uns natürlich hiermit auch alles Gute zum Geburtstag!
Henk korrigiert die Anzahl der Glückwünsche noch nach oben auf 1564.
Als du anfingst zu tätowieren, hast du dir jemals träumen lassen, dass deine Zunft im Mainstream ankommen wird?
HS: Ich denke, dass wir es langsam merkten, als bestimmte Musikvideos auf den Markt kamen, wie etwa von den Stray Cats oder den Red Hot Chili Peppers. Da gab es dieses bestimmte Image und du hast mitbekommen, wie die Fans dieses Image adaptierten.
Es gab einige Tattoos, die ich gemacht habe, bei denen ich nur die eine Person vor Augen hatte und plötzlich ist das Ding zum populären Trend geworden. Als Beispiel etwa das Backpiece von Anthony (A: Kiedis, The Red Hot Chili Peppers). Davon hab ich nun schon hunderte Kopien gesehen.
Wie fühlt sich das an, ein Künstler zu sein, der Trends setzt?
HS: Da steckt ein großes Kompliment drin und es hat mir natürlich auch die Möglichkeit gegeben, dieses Buch zu veröffentlichen. Wenn ich in meinem Keller geblieben wäre, dann gäbe es dieses Buch nicht, aber ich finde, dass es etwas ist, das die Tattoo-Welt verdient. Ein Monument für das Tätowieren.
Wo wir grad beim Buch sind: deine Karriere fing im Bereich Grafik an. Hast du deine Hände auch beim Layout im Spiel gehabt? Das Buch ist außerordentlich schön präsentiert und gesetzt.
HS: Das ist ein großes Kompliment an den Taschen-Verlag und die dortigen Grafiker. Ich habe die Bilder gemalt und Noel Daniel hat die Auswahlen getroffen.
Henk reicht uns an seine Frau Louise weiter. Draußen vor dem Fenster seines Studios ist irgendwas los und er muss nachschauen.
Louise Schiffmacher (LS): Falls es etwas gibt, was ihr mich fragen wollt, solange Henk außer Reichweite ist, dann ist jetzt die perfekte Zeit!
Na das Wichtigste vorab: Auch persönlich noch einmal alles Liebe! Wir hoffen, dass du auch trotz Corona einen schönen Geburtstag hattest?
LS: Es war echt total überwältigend, so wie Henk sagte! Wir sind ja nun schon etwas älter und sind seit längerer Zeit Teil dieser Welt. Und als die sozialen Netzwerke aufkamen, haben wir ziemlich schnell mitgemacht. Da kann man sich wundervoll mit Followern und anderen Tattoo-Künstler verbinden, die von überall auf der Welt herkommen! Russland, Deutschland, Frankreich, Italien. Es kamen von überall Glückwünsche. Das ist wirklich was Besonderes und Warmes in dieser Welt.
Wenn wir auf Reisen sind, dann schauen wir uns auch immer gern die lokalen Tattoo-Shops an. Unsere Freunde dort haben auch oft ein spezielles Geschenk für uns, wie etwa eine Zeichnung. Auch wenn Henk manchmal etwas bitter wirkt, aufgrund des Overkills der momentan herrscht und Menschen, die Bilder und Dinge benutzen und keine Ahnung haben, wo der Urpsprung liegt, so kommt das Wort „Tattoo“ dennoch bestimmt 3000 Mal am Tag aus seinem Mund.
Wir verabschieden und und sie lacht herzlich und reicht das Telefon wieder an Henk. Danach lenken wir das Thema zurück auf das Buch und auf die etwa 200-jährige Geschichte, die es umfasst. Henk erläutert die Inhalte und man merkt so richtig, wie sehr ihm das alles am Herzen liegt.
HS: Das Buch fängt an bei alten Radierungen an die um 1700 entstanden und die sogenannte „Wiedereinführung des Tätowierens in Europa“ einläuten. Das Tätowieren war niemals so wirklich verschwunden, aber in der Zeit der Reformation haben Luther, Zwingli, Calvin und Co dem Tätowieren einen Riegel vorgeschoben. Die Leute sollten sich alle normal verhalten und es gab keine Pilger- oder koptischen Tätowierungen mehr.
Durch die großen Entdecker wie Captain Cook kam das Tätowieren wieder zurück. Diese fuhren durch den Pazifik und brachten tätowierte Menschen mit nach Europa, welche dann auf der Kirmes als „Wilde“ ausgestellt wurden. Dann war es nur noch ein kleiner Schritt für manche, sich selber tätowieren zu lassen. Manche große Namen der Tätowierszene, wie etwa Wagner in der Bowery, produzierten „Zirkusmenschen“. Tätowierte Männer, Frauen, oftmals Arbeitslose und sogar Kinder – die sind dann im Zirkus mitgefahren und haben Touren durch Amerika und Europa gemacht. Das ist auch der Zeitpunkt, an dem das Buch ansetzt. Sachen zusammenzutragen, die davor passiert sind, ist äußerst schwierig.
Da du so unfassbar viele Dinge gesammelt hast, meinst du, wir können noch ein weiteres Buch erwarten?
HS: Ich würde liebend gerne ein weiteres Buch rausbringen. Wir haben sehr viel digitalisiert, jedoch wäre das zweite Buch thematisch eher bei Maschinen und dem Werkzeug angesiedelt. Das wäre zwar sehr schön, aber leider weniger leicht zu verkaufen. Es ist nicht einfach ein Buch zu machen, welches den Tätowierern zusagt und gleichzeitig ein größeres Publikum anspricht. Das ist dem Taschen-Verlag als großes Verlagshaus natürlich nicht unwichtig.
Um generell mal auf deine Sammlung zu sprechen zu kommen: Gibt es die Möglichkeit oder ist es geplant, dass die Ausstellung mal wieder irgendwo zu sehen ist? Wir – und bestimmt auch ganz viele andere – würden es total gerne sehen.
(Anmerkung: Seine Sammlung war für etwa ein Jahr als Museum der Öffentlichkeit zugänglich. Leider musste es aus verschiedenen Gründen wieder schließen.)
HS: Naja, das Problem ist, dass wir zu viele Menschen auf dieser Welt sind und jeder Quadratmeter in dieser Stadt unfassbar teuer ist. Man müsste ein extrem guter Geschäftsmann sein, um ein Museum unter diesen Voraussetzungen offen zu halten und dann würde schnell die künstlerische Komponente flöten gehen.
Ich bin Jäger und Sammler und wenn es nach mir ginge, würde ich das Museum ganz bald wieder offen sehen wollen. Das war mit dem Buch genauso. Als Covid im März hier ankam, da bin ich ins Grübeln gekommen, ob ich das Buch überhaupt noch mitbekommen werde. Bin ja nun 68 und wenn ich krank werde, müsste ich bestimmt umgedreht ins Krankenhaus geliefert werden – da muss ich schon vorsichtig sein.
Für meine gesammelten Sachen habe ich eine große Verantwortung und jemand sollte sich um die Sachen kümmern, wenn ich mal nicht mehr da bin. Falls ihr jemanden mit ein paar Millionen zu viel auf dem Konto kennt, dann gebt dem ruhig meine Telefonnummer.
Das behalten wir mal im Hinterkopf! Hast du in den Jahren jemals an deiner Arbeit gezweifelt?
HS: Als Künstler solltest du immer an deiner Arbeit zweifeln. Du solltest dein eigener stärkster Kritiker sein. Du solltest alles, was du tust, kritisieren und niemals so richtig damit zufrieden sein.
Da schon vieles in meinem Leben passiert ist, ist es manchmal kurios, was man alles so vergisst. Das ist bei mir Einiges – vor allem die Dinge, die ich bewusst verdränge. Ich war mal unterwegs und habe diesen Typen mit einem Tattoo gesehen und sagte: „Das ist ein schönes Tattoo. Das ist schön gealtert! Wer hat das gemacht?“ und er sagte „Du warst das.“
Es findet stets eine Weiterentwicklung statt und auch man selbst sollte sich immer weiterentwickeln.
Wie kannst du dich neu motivieren und wie findest du Inspiration, wenn dich eine weniger kreative Phase packt?
HS: Ich habe zwei wundervolle Töchter und eine fantastische Frau, einen Hund und eine Miezekatze. Ich lebe in einer großartigen Stadt in einer großartigen Welt. Ich reise ab und an gerne und ich bin glücklich.
Wenn ich mal eine Down-Phase habe, dann habe ich dennoch gute Hoffnungen für die Zukunft. Ich hoffe, wir bekommen bald die Impfung und können dann wieder alle sehen und reisen. Ich sollte eigentlich gerade in Deutschland eine Signierstunde im Buchladen haben, aber natürlich geht das gerade nicht. Sogar die Museen sind zu, Bars sind zu. Nicht mal ein verdammtes Schnitzel bekämst du zurzeit in Deutschland. Auf der anderen Seite macht meine Frau aber auch ein ziemlich grandioses Schnitzel.
Als letzte Frage: Gibt es einen Rat, irgendwas, was du gelernt hast, was du jungen Tattookünstler*innen da draußen auf den Weg geben möchtest?
HS: Mein Rat wäre, an all die, die es hören wollen und auch an die, die es nicht hören wollen: Geht in den Baumarkt, holt euch einen Hammer und macht eure Tattoomaschine kaputt.
Louise möchte gerne noch etwas in Henks Namen hinzufügen.
LS: Es gibt einen himmelweiten Unterschied zwischen Tätowierer und Tattookünstler. Es gibt Menschen, die sind nur für das Geld im Business und die sind einfach nur Tätowierer. Ein Künstler hingegen, das ist ne ganz andere Geschichte. Es geht dabei darum, dass du dein Leben sprichwörtlich der Kunst des Tätowierens hingibst, deine Haut als Sammlung.
Henk fügt hinzu, dass ein nicht-tätowierter Mensch auch kein Tätowierer ist.
HS: Das ist wie eine Nonne im Bordell. Aber mal allgemein gesprochen: Ich hoffe, dass die Conventions wieder etwas kleiner und intimer werden und mit mehr bekannten Gesichtern gefüllt sind. Keiner kennt mich und ich kenne keinen heutzutage.
Habt ein bisschen Respekt für eure Alten. Selbst wenn sie nicht die besten Tätowierer unter der Sonne sind, so haben sie doch ganz viel zu erzählen und Wissen darüber, wie man mit Leuten umgeht. Erhaltet und umarmt eure Vergangenheit. Diese Leute haben euch den Weg geebnet.
Wir bedanken uns für seine Zeit, wünschen uns gegenseitig noch alles Gute für den weiteren Verlauf der Pandemie und versprechen ihn nach Corona zeitnah besuchen zu kommen.
Das neue Buch von Henk Schiffmacher ist hier erhältlich!
TATTOO. 1730s-1970s. Henk Schiffmacher’s Private Collection.
Nummerierte Erstauflage von 10.000 Exemplaren
Henk Schiffmacher, Noel Daniel
Hardcover, 29 x 38,8 cm, 5,56 kg, 440 Seiten
125 Euro
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