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Interview: Auf eine Erdbeerbowle mit Melissa Scrooge
Es sind über 30 Grad am frühen Nachmittag des ersten Festival-Tages. Auf der Bühne direkt am Wasser spielt die erste Band. Ich bin mit Melissa Scrooge zum Feelfarbig-Interview verabredet und treffe sie in der Nähe des Erdbeerbowle-Standes. Wir müssen ziemlich laut reden, um uns überhaupt zu verstehen und suchen uns deshalb einen ruhigeren Platz zwischen den Stages. Die Atmosphäre ist locker und es ist leicht, mit Mel ins Gespräch zu kommen.
Sinah: Wie geht’s dir, Mel? Bist du schon im Festival-Modus?
Mel: Ich habe eine super stressige Woche hinter mir. Ich habe einen dummen Anfängerfehler gemacht und wollte eigentlich sogar gestern noch arbeiten, habe dann aber Gott sei Dank den Termin verschieben können und konnte ein bisschen Festival-Vorbereitung machen.
Wegen Corona hat man eigentlich gar keine Ahnung mehr, wie man auf ein Festival fährt. Ich hatte nichts mehr da, auch nicht im Keller, und musste mir alles irgendwie organisieren. Aber jetzt mit der Erdbeerbowle bin ich auf jeden Fall richtig im Modus.
Sinah: Bedeutet Festival dann auch Urlaub und Entspannung für dich?
Mel: Ich glaube, Festival ist bei mir das, was vor der Entspannung kommt. Festival ist, den ganzen Scheiß rauslassen und mal so richtig krass anders als im Alltag sein. Danach hat man diese ganze Energie rausgelassen und dann kann man wirklich mal chillen und vielleicht auch ein bisschen zuhause reflektieren. Oder würdest du sagen, dass du entspannt bist?
Sinah: Nee, gar nicht. Ich war ja vor zwei Wochen schon auf einem Festival und muss mich erst einmal wieder emotional darauf einstellen. Wie du sagst, hier ist erst mal wieder Spaß haben, keine Arbeit, keine Verpflichtungen, keine Regeln…
Mel: Ja und vor allem das Daydrinking, bin ich Fan von einfach [sie lacht]. Ich trinke nicht viel Alkohol, aber wenn, dann tagsüber. Das find ich einfach total logisch, weil die Leute, die nach der Arbeit saufen, sind am nächsten Tag total im Arsch. Ich denke mir, Alkohol ist auch Arbeit für den Körper – funny, aber auch Arbeit. Also ist es doch total unclever, das in der Zeit zu machen, wo du eigentlich resten solltest.
Also trink doch wenn lieber tagsüber und geh dann chillig um 11 ins Bett. Zwei Liter Wasser hinterher und am nächsten Tag ist alles okay. Die Leute übertreiben so maßlos mit Wachbleiben und so. Das ist nicht mein Ding.
Sinah: [lacht] True. Apropos Arbeit, hast du schonmal auf einem Festival tätowiert?
Mel: Jo, wir haben 2019 kurz bevor Corona angefangen hat auf diesem Festival tätowiert. Das war super lustig. Wir hatten die Chance, Artists im Backstage-Bereich zu tätowieren. Ich habe da auch der Frau von dem Sänger von „Crow“ das Tour-Logo der Band auf die Hand tätowiert.
Wir tätowieren demnächst auch auf einem anderen Festival.
Sinah: Was rätst du dann bezüglich der Pflege, wenn man sich auf einem Festival tätowieren lässt?
Mel: Also, die Tätowiererin in mir, die gerne qualitative Arbeit abliefert sagt, lass dich auf gar keinen Fall auf einem Festival tätowieren. Die Party-Tätowiererin in mir sagt, okay, wenn es geht, lass es ausbluten, mach Second Skin-Folie drauf.
Second Skin ist Gold wert, Leute. Vor allem auf einem Festival oder wenn du unmittelbar vor dem Festival tätowiert wurdest. Es gibt jetzt auch von der Marke meines Vertrauens eine Second Skin, die Sun Protection drin hat. Ich habe die noch nicht ausprobiert, aber ich finde krass, dass es das gibt. Die leben in 2035 für mich und das kann ich auf jeden Fall empfehlen.
Sinah: Triffst du manchmal zufällig Customer auf öffentlichen Veranstaltungen?
Mel: Ja, und ich will auch ein Festival-Reel daraus machen, wenn ich das auf die Reihe kriege. Ich hoffe, ich schaff’s, wenn ich nicht zu sehr im Modus bin. Ich habe eigentlich vor, von jedem Tattoo, auch von Kolleg*innen oder Artist, die ich geil finde und das ich wiedererkenne, Fotos zu machen.
Dann kommt so ein Banger nach dem anderen. Ich habe schon ein zwei Tattoos von mir gesehen, aber nur im Vorbeigehen, aber ich muss auf jeden Fall noch Bilder machen. Du hast auch bestimmt schon welche von dir gefunden, oder?
Sinah: Ja, aber meistens auch auf Leuten, die ich sowieso persönlich kenne. Aber 2019 war ich hier auf dem Gelände am Waschbecken und wollte mir gerade die Hände waschen, als plötzlich eine Person zu mir kam und meinte, „Hey, guck mal voll gut verheilt!“
Mel: Aww, voll sweet!
Sinah: Also fändest du’s auch cool, wenn Customer dich einfach ansprechen würden?
Mel: Ja, auf jeden Fall! Heute hat mich jemand angesprochen und gefragt, wie man am schnellsten an einen Termin kommt. Ich meinte so, „Naja, am besten du schaust auf meiner Seite und checkst die Highlights bei Instagram ‚How to book an appointment'“. [lacht] Alle Infos dann in eine E-Mail und dann kommt es ein bisschen darauf an. Laufende Projekte haben bei mir zum Beispiel immer Vorrang.
Ich bin sehr lucky damit, dass ich Leute habe, die sich ein ganzes Körperteil tätowieren lassen und das braucht dann ein paar mehr Sitzungen. Deshalb ist es immer ein bisschen tricky mit Neukund*innen.
Ich tu mein Bestes, bin aber auch nicht die Beste, wenn es um E-Mails geht. Sonst bin ich voll gut. Ich packe super ein, wirklich! Wenn ich dich eingepackt habe, hält die Folie für immer. Wenn du sie nicht selbst runterholst, stirbst du damit! Aber mit E-Mails bin ich leider nicht so gut.
Sinah: Woher holst du die Inspiration für deine Tattoos?
Mel: Ich finde gar nicht, dass ich so krass inspirierte Tattoos mache. Es gibt ja Leute, die sich übelst krasse Sachen, wie komplette Fairytale-Wesen ausdenken. Ich mache mir einfach eine Vorstellung von einer realistischen Geschichte in düster.
Ob man da sooo inspiriert sein muss, weiß ich gar nicht, aber den Vibe dafür, kriege ich von Horrorfilmen. Ich stehe übertrieben auf alles, was Grusel ist: Halloween, Mythen, Sagen, Gestalten, Kryptozoologie. Ich liebe es! Das geht auch weiter bis hin zu Verschwörungstheorien. Alles, was irgendwie in diese Richtung geht, finde ich übelst geil. Ich stehe übertrieben krass auf Creepy pasta, kennst du das?
Sinah: Nee?
Mel: Creepy pasta ist so ein Internet-Format, wo man Horrorgeschichten rumreicht, die man selber geschrieben hat. Daher kommt zum Beispiel der Slenderman, mehr oder weniger. Ich bin übertrieben süchtig nach sowas, auch True Crime und sowas.
Sinah: Aber Verschwörungstheorien auch nur so als Motive, weil du gerade meintest, du stehst drauf?
Mel: [lacht] Ja, um das richtigzustellen, nur als Motive! Ich wünschte, ich würde mal ein ganzes Verschwörungstheorien-Theme machen, ein Bein oder einen Arm als Verschwörungstheorie. Wow, das wäre so geil. Aber nichts Geschmackloses. Vielleicht so ein Echsenmensch-Arm, zum Beispiel ein Portrait. Oder Mothman, Slenderman oder die weiße Frau. Da gibt es ja so viel. Alter, falls das jemand hört, da wäre ich für zu haben!
Sinah: Wie gesagt, du tätowierst ja eher düstere Motive und bezeichnest deinen Stil selbst als „Dark work“ oder „Dark Illustration“. Gibt es Motive, die du direkt ablehnst?
Mel: Na, alles, was in eine politische Richtung geht, die ich nicht gut finde. Also alles, was irgendwie in Richtung rechts geht oder misogyn ist. Aber auch alles, bei dem ich sehe, dass es nicht so richtig passt.
Ich mache da manchmal so ein bisschen die Mutti. Also wenn da zum Beispiel ein 18-Jähriger kommt und sich den Arm blacken lassen will, dann mache ich das nicht. Einfach, weil ich glaube, das Blackout wirklich die letzte Instanz ist. Ich sage nicht, dass das für alle spricht, aber das ist so meine subjektive Wahrnehmung.
Ich finde, Blackouts kann man machen, wenn man keine andere Wahl mehr hat. Aber hol dir am Anfang doch erstmal geile Motive!
Ich verstehe nicht, warum sich so viele Blackouts machen lassen. Da habe ich manchmal das Gefühl, jeder will krasser als der andere sein – das riecht für mich nach Toxic masculinity. Das finde ich irgendwie nicht so geil. Also no Front an Leute, die Blackwork-Sachen haben, ich finde zum Beispiel Bodysuits übertrieben krass, ich habe auch einen Kollegen, der einen hat.
Aber ich habe einfach oft diesen Film von jungen Leuten, die mit einer Welle schwimmen und am Ende, das klingt so dumm, nicht so abschätzen können, was die Konsequenz davon ist. Du kannst danach nicht mehr zurück. Ich arbeite jeden Tag mit Leuten, die scheiß Tattoos bekommen haben oder manchmal sind sie gut gestochen, aber die Motive waren unüberlegt. Und dann müssen sie sich diese dann für lange Zeit für aufwendig covern lassen. Das tut mir irgendwie leid und nach schwarz gibt es ja auch nichts mehr.
Sinah: Gibt es auch Stellen bzw. Körperteile, die du nicht tätowierst?
Mel: Nee, ich hatte aber auch noch keine Penis-Anfrage. Also, wenn jemand eine Front haben möchte und das, um das jetzt mal korrekt zu sagen, bis auf den Schaft gehen würde, wäre ich auf jeden Fall am Start, wenn die Energy nicht eklig ist.
Ich habe ja Leute, mit denen ich große Bauch-Projekte gemacht habe, die auch tiefer gehen und es war immer cool. Da war nie jemand unangenehm oder so und da hätte ich auf jeden Fall Bock drauf! Ich habe auch schon Intimbereiche bei Frauen tätowiert – das war auch chillig und sieht einfach geil aus. Das finde ich cool.
Ich glaube, ich hätte irgendwo eine Grenze, was einen Arsch angeht. Irgendwo musst du wissen, wann du Schluss machst und ich würde Eier nicht tätowieren. Das liegt aber eher daran, dass ich mir das übelst anstrengend vorstelle. Ich bin eh schon so angestrengt vom Hautspannen und wenn du dann so einen Sack hast. Der zieht sich dann wahrscheinlich auch zusammen, wenn Schmerzen kommen, who knows. Da wäre ich raus.
Sinah: Wie gehst du mit Kunden*innen um, wo du beim Termin merkst, geht gar nicht, wie sie mit dir umgehen. Ist das schon einmal passiert?
Mel: Ich habe das Glück, dass ich Terminanfragen per E-Mail bekomme und meine Kunden*innen dadurch schon einen strengeren Bewerbungsprozess haben. Es ist leichter, wenn du E-Mails hast, die so strukturiert sind, dass Leute schon exakt auf wichtige Fragen geantwortet haben.
Wenn du ein paar Termine auf einmal vergeben willst, dann ist das zwingend notwendig und ich habe die Erfahrung gemacht, dass Leute, die mir in einer Session wahrscheinlich auf den Sack gehen würden, sich diesem Prozess gar nicht unterordnen. Das siebt schon einmal aus. Unterordnen meine ich so in Anführungszeichen. Es gibt ja Leute, die haben einfach richtig Stress damit, Anweisungen von anderen zu folgen. Wenn ich dich aber tätowieren soll, dann macht das schon Sinn.
Nicht irgendwie scheiße gemeint, sondern weil es den Prozess einfacher macht. Im Best case schreibe ich dann drei E-Mails mit der Person und bin dann durch. Das ist eigentlich immer cool.
Ich hatte tatsächlich ein zweimal jemanden, wo ich das bei den E-Mails noch nicht so gecheckt habe oder die Projekte so geil waren, dass ich drauf geschissen habe und es trotzdem gemacht habe. Habe es dann aber auch schon ein bisschen bereut. Aber normalerweise habe ich übertrieben nice Leute.
Entweder die bringen Essen mit, die kochen irgendwas Veganes oder jemand hat mir mal eine Skeptiker-Zeitschrift mitgebracht oder eine Psychologie-Zeitschrift, das ist übertrieben süß. Mir hat auch schonmal jemand ein Buch geschenkt. Ich bin so blessed damit, ohne Mist, so blessed.
Sinah: Was war bei denen, wo es nicht so gepasst hat?
Mel: Ich bin sehr dankbar dasfür, dass ich sehr frei sein kann in meinem kreativen Prozess. Wie zum Beispiel, dass jemand sagt, ich hätte gerne den rechten Arm und irgendwas mit einer Schlange und ich kann es in meinem Stil umsetzen.
Dann gibt es Leute, die extrem viel Kontrolle über den Design-Prozess haben wollen und damit kann ich nicht so gut umgehen. Ich will nicht irgendwas machen, aber schon das Beste aus meinen Fähigkeiten und da wäre es gut, wenn ich ein bisschen Spielraum hätte. Ob ich nun diese oder andere Blätter für den Hintergrund nehme. Wenn ich dabei zu stark eingeengt werde, kommt da am Ende Murks raus, hinter dem ich nicht stehe und dann habe ich auch keinen Bock, das zu tätowieren.
Das ist da das Problem gewesen. Ich sage auch oft schon in der ersten Mail, tut mir leid, so wie du das haben willst, wird es nicht gut aussehen. Es folgt nicht deinem Body flow, ist nicht haltbar, ist designmäßig nicht ansprechend, folgt keiner Regel, keinem goldenen Schnitt und dann habe ich ein Problem damit, es umzusetzen.
Die Person hat das Tattoo einfach ein Leben lang. Ich habe nicht die Weisheit mit Löffeln gefressen, aber als jemand, der das jeden Tag macht und sich Mühe gibt, wäre es vielleicht clever dabei auf mich zu hören.
Sinah: Was bedeuten deine eigenen Tattoos, die du trägst für dich? Ist es dir wichtig, dass sie eine Bedeutung haben und dass sie zusammenpassen?
Mel: Also ich habe ein Bein, da mache ich so lustige Sachen wie das Wort „Ruhe“ in einem Herz. Oder ein Weed-Tattoo und ein Heimwerkerinnen-Tattoo. Das Bein ist auch für Guest Artists, wo jede*r mal drauf kann quasi. Bei dem Rest, glaube ich, dass ich mich ein bisschen selber foole. Ich versuche mir eine Bedeutung dazu zu denken, aber manche Tattoos sehen einfach nur geil aus.
Ich habe zum Beispiel Hexen am Hals und mich interessieren Hexenverbrennungen total, aber ich habe mir nicht extra überlegt, dass ich gerne Hexen auf den Hals hätte. Die waren Wannados eines Kollegen und ich dachte, wenn ich die eine Seite mache, muss ich auch die andere machen. Im Nachhinein denke ich dann, „Ja, du stehst auf Hexen, das war eine gute Idee.“ Die Bedeutung reingetrickst.
Ich glaube, irgendwann hat man so viele Tattoos, dass es einen nicht mehr so fertigmacht, welche auszusuchen. Ich bin aber generell auch keine Person, die eine Hard time hat, Entscheidungen zu treffen. Deshalb ist es für mich auch relativ chillig und ich kann damit leben, aber ich habe auch eigentlich wenig Scheiße tätowiert.
Sinah: Ja, ich wollte auch gerade sagen, dafür hast du aber ziemlich gute Tattoos.
Mel: Geht. Also der rechte Arm ist ein bisschen holterdiepolter, aber da kriege ich jetzt noch die Kurve. Ich habe halt so ein übelst funny Tattoo, richtig cringe, ich weiß gar nicht, auf welcher Seite meines Knöchels. Das ist einfach der Umriss von Berlin… oder Thüringen, ich bin mir jetzt gerade nicht sicher.
Sinah: Normalerweise sollte ich es eigentlich auch wissen, weil ich ja auch in Berlin wohne.
Mel: Ich glaube, es ist Berlin – siehst du, ich weiß es gar nicht mehr! Scheiße, Berlin oder Thüringen. Auf jeden Fall war die Idee davon – ich war sehr deep, als ich 18 war – ein Standbein in Berlin, meiner Wahlheimat, und ein Standbein in Thüringen.
Sinah: Und in welchem Setting fühlst du dich selbst am wohlsten, wenn du tätowiert wirst? Wie muss ein Termin für dich ablaufen, damit du dich wohlfühlst?
Mel: Ich bin eine Kartoffel und mag es echt gerne, wenn Leute pünktlich sind. Also versuche ich mich selbst auch so als Tätowiererin zu verhalten, wie ich es gerne als Kundin habe.
Ich möchte gerne, dass der Tattoo Artist vorbereitet kommt. Es sei denn, die Person macht es Freehand, dann natürlich nicht. Ich will auch nicht erst um 14 Uhr anfangen. Mein Leistungshoch ist morgens, am besten so 11, maximal 12 Uhr.
Richtig Abfuck sind Raucherpausen für mich. Wenn das so krasse Kettenraucher*innen sind und immer wieder Pausen gemacht werden beim Tätowieren. Gerade, wenn man Schmerzen hat, ich bin eh so ein Crybaby. Das wäre mir so wichtig.
Und ganz wichtig: rasiert nass! Trocken rasieren tut weh wie Sau! Macht es nicht, das finde ich wirklich ganz schlimm!
Sinah: Das ist doch ein guter Schlusssatz! Ich bedanke mich für das Interview und weiter geht’s! Noch zwei Tage Festival, Camping, viel Spaß und Erdbeerbowle! Bis zum nächsten Mal!