Dein Support für Feelfarbig 🖤Hi! Schön, dass dir unsere Arbeit hilft. Unsere Recherchen und Beiträge sind stets unabhängig und für dich kostenlos. Damit das auch so bleiben kann, unterstütze uns gern. Danke! ✌️
Im ersten Teil dieser Beitragsreihe haben wir mit Tätowierer*innen über das Tätowieren immer sichtbarer Stellen gesprochen. Dort haben sie davon erzählt, dass eine offensichtliche Platzierung, wie ein Tattoo im Gesicht, auch für Artists keine einfache Entscheidung oder etwas Alltägliches ist.
Hier lest ihr nun, was sich die Träger*innen von Gesichts-Tattoos und denen an Händen oder Hals vorher für Gedanken und Bedenken gemacht haben. Julie May, Robin Jacobi und Tino Steinborn erzählen, inwiefern die auffälligen Tätowierungen das eigene Umfeld oder gar einen selbst verändern können und was für Erfahrungen sie seitdem gesammelt haben. Auch wenn alle drei in der Tattoo-Metropole Berlin leben, haben sie dennoch Unterschiedliches zu berichten!
Hat es Überwindung gekostet sich an einer immer sichtbaren Stelle tätowieren zu lassen?
Julie May: Mein erstes Tattoo an einer dieser Stellen war das Unalome neben meinem Ohr. Ich muss etwa 23 gewesen sein und hatte außer meinem kompletten rechten Arm und ein paar kleinen Motiven noch keine Tattoos. Bedenken hatte ich kaum, da ich die feinen Linien an dieser Stelle selbst als sehr zart empfand und dachte, ich könne es jederzeit mit Haaren überdecken. Außerdem hatte ich auch schon einen Job, bei dem ich wusste, es wird nicht auf Tattoos geachtet.
Vor meinem ersten Hand-Tattoo, dem roten Panda auf der rechten Hand, war das allerdings anders. Ich habe mir einige Monate überlegt, ob ich diesen Schritt gehen will, weil die Hände nun wirklich immer zu sehen sind. Da ich aber wusste, ich wollte eh nie in einem Bereich arbeiten, in dem das Aussehen eingeschränkt würde und andere Reaktionen von Mitmenschen diesbezüglich mir ebenso egal waren, war die Entscheidung dann klar. Weder beim Tattoo an meiner Schläfe noch beim zweiten Hand-Tattoo dachte ich nochmal darüber nach.
Robin Jacobi: Anfangs habe ich mir natürlich Grenzen gesetzt. Immer mit der Begründung, dass ich ja nicht weiß, wo es mich beruflich noch hinführen wird und dass es mir in der Zukunft eventuell irgendwas verbauen könnte. Das heißt, ich wollte “erstmal” warten, bis ich mir dauerhaft sichtbare Stellen tätowieren lasse. Innerlich wusste ich allerdings von vornherein, dass es irgendwann mal dazu kommen wird, dass ich mir Hände und Hals tätowieren lasse.
Eines Tages fragte ich mich, worauf ich eigentlich noch warte. Wann ist denn der richtige Zeitpunkt? Mit 30? 40? 50? Und für wen halte ich mich denn bitte zurück? Für meinen zukünftigen Arbeitgeber?! “Bullshit”, dachte ich mir! Ich weiß nicht mal, ob ich morgen noch lebe! Ich wollte mich nicht länger von solchen Gedanken einschränken lassen und mir wurde einfach klar, dass ich nur dieses eine Leben habe und es einfach nie den “richtigen” Zeitpunkt geben wird. Mit solchen Gedanken werde ich nie so aussehen, wie ich es gerne würde. Damit verbiete ich mir einfach ich selbst zu sein und aus mir rauszukommen. Nur aus Angst, dass fremde Leute mich eventuell so nicht akzeptieren würden. Also realisierte ich, dass der richtige Zeitpunkt immer genau JETZT ist. Nachdem mir das alles bewusst wurde, hat es mich keine Überwindung gekostet, mir diese Stellen tätowieren zu lassen. Da hatte ich wirklich keinerlei Bedenken mehr.
Tino Steinborn: Ganz zu Beginn hat jedes kleinste Tattoo, welches ich in sichtbaren Bereichen bekommen habe, komplette Überwindung gekostet. Ich habe hin und her überlegt, ob es die richtige Entscheidung ist, sich dort tätowieren zu lassen, wo man es schlecht oder gar nicht mehr verdecken kann.
Ich habe mehrere Jahre im Einzelhandel in einem Einrichtungshaus gearbeitet und hatte direkten Kundenkontakt im Verkaufsraum. Anfangs kam natürlich der Gedanke auf, dass meine Vorgesetzten und der Marktleiter absolut nicht damit einverstanden sind und sichtbare Tattoos nicht tolerieren. Während meiner Zeit dort habe ich also Brust, Bauch und Lenden tätowieren lassen. Kurz darauf wurde mein rechter Arm Stück für Stück von Oberarm bis Handgelenk tätowiert und damit hatten sie keinerlei Probleme. So wagte ich letzten Endes auch den Handrücken und die Handinnenfläche.
Bei den Kunden stieß ich durchgehend auf positives Feedback und auch für meinen Abteilungs- und Marktleiter war es voll in Ordnung. Kurz darauf habe ich mir mein erstes Gesichtstattoo, einen weißer Anker unter dem Auge, tätowieren lassen und auch damit gab es keinerlei Probleme!
Im Jahr 2015 habe ich den Laden verlassen und bei einem Tattoo-Fachhandel angefangen. Da ist der Bezug zu Hals-, Hand- und Gesichtstattoos immer größer und einfacher geworden. Meine Kunden waren alle selbst Tätowierer und meine Kollegen waren alle tätowiert. Es war total normal und so stieg wuchs auch das Verlangen mich im Gesicht und am Hals tätowieren zu lassen. Ein Jahr später habe ich mir also den Hals tätowieren lassen und das hat optisch natürlich einiges geändert. Durch die Arbeit im Tattoo-Fachhandel, auf Conventions und der Tattoo-Szene sank die Überwindung so sehr, dass ich mir mittlerweile keine Gedanken mehr darüber mache.
Hat ein Artist dir so einen Tattoo-Wunsch schon mal ausgeschlagen?
Julie May: Ich wählte die Tätowierer nach ihrer Erfahrung mit diesen Stellen aus. Dadurch fühlte ich mich in sicheren Händen und bin auch mit allen Ergebnissen sehr zufrieden. Abgelehnt wurde ich mit meinem Wunsch da nicht.
Robin Jacobi: Tatsächlich noch nie! Ich habe mich aber auch bewusst zu diesen Stellen “vorgearbeitet”. Von daher denke ich mir zumindest, dass die jeweiligen Tätowierer schon gesehen und gemerkt haben, das ich mir ziemlich sicher und darüber bewusst bin, was ich mache. Ich persönlich finde es auch unschön, sich ausschließlich die dauerhaft sichtbaren Stellen tätowieren zu lassen und kann da die Künstler verstehen, die so etwas von Grund auf ablehnen.
Tino Steinborn: Bisher wurde nur ein Tattoo abgelehnt. Lustigerweise nicht aufgrund des Motivs, sondern weil ich dafür meinen Bart hätte abschneiden müssen – und das wollte mein Tätowierer nicht. Das hat sich aber mittlerweile auch geändert und wird hoffentlich bald in Angriff genommen!
Wurdest du von deinem Tattoo Artist bei der Wahl der Körperstelle beraten?
Robin Jacobi: Ja, natürlich! Zwar hat man vorher eine gewisse Vorstellung im Kopf, aber ob die realisierbar ist, weiß man vorher nicht immer. Vor allem Stellen wie Hals und Gesicht sind einfach was ganz Anderes als beispielsweise der Arm. Viel weichere und elastischere Haut, was das Stechen eben schwieriger und zeitaufwendiger gestaltet. Natürlich spiegelt sich das verständlicherweise auch meist im Preis wieder. Ich habe schon oft erlebt, wie Künstler bei ihren Kunden diesbezüglich auf Unverständnis gestoßen sind, was ich sehr schade finde. Viele sind da einfach unaufgeklärt.
Mir ist es allgemein sehr wichtig, mit dem Künstler über alles zu sprechen und mir auch seine Meinung zu meiner Idee anzuhören. Ich lasse mich in dem Fall auch immer gern eines Besseren belehren, was geht und was nicht. Da spielt Vertrauen und das allgemeine Verhältnis zum Tätowierer eine wichtige Rolle in meinen Augen. Wenn das alles stimmt, sind am Ende alle glücklich!
Tino Steinborn: Ich wurde immer nur zu den jeweils ersten Tattoos an Hand, Hals und Gesicht beraten. Bei den weiteren Tattoos ist man nicht mehr näher ins Detail gegangen, da ich mir der Sitzungen und des Ablaufes bewusst war.
Lediglich bei größeren Projekten sind wir nochmal ins Detail gegangen bzw. wurde nochmal abgeklärt, ob ich das wirklich möchte und danach war alles cool! Beraten wurde ich aber immer in Sachen Pflege, da sich die Stellen unterschiedlich im Heilungsprozess verhalten.
Bemerkst du einen Unterschied in deinem Umfeld, seitdem du diese Stellen tätowiert hast?
Julie May: Die Reaktionen nach meinem ersten Tattoo neben dem Ohr haben mich wirklich überrascht. Wie gesagt, mir erschien es zart und dadurch unscheinbar, aber ich wurde im Umfeld oft erstaunt und erschrocken darauf angesprochen. Man könne sich doch nicht das Gesicht tätowieren lassen! Das ginge ja schon zu weit! Zu mir würde es aber auch passen. All solche Kommentare.
Danach war scheinbar nichts mehr überraschend, denn Kommentare in der Art bekam ich bei Händen und Schläfe nicht. Nur wenn ich aus Berlin rausfahre, merke ich manchmal die Blicke von Passanten, die das Bild wohl noch nicht gewohnt sind. Das werden aber wohl die meisten stärker tätowierten Menschen kennen.
Robin Jacobi: Eher weniger muss ich sagen. Ich glaube schon, dass der ein oder andere, vor allem der älteren Generation, gerne mal schief guckt beim Anblick eines Gesichtstattoos, aber darauf achte ich auch einfach kaum. Jedenfalls würde ich nicht sagen, dass sich mein Umfeld dadurch irgendwie verändert hat – weder sehr positiv noch negativ. Es ist ja mittlerweile auch fast schon normal geworden und die Gesellschaft geht lockerer damit um.
Was sich auf jeden Fall ändert, ist die Selbstwahrnehmung, was ich viel wichtiger finde! Es stärkt einfach das Selbstbewusstsein und man fühlt sich viel wohler im eigenen Körper meiner Meinung nach. Ich glaube, dass das dann auch automatisch auf andere so wirkt und man dadurch auch positiver wahrgenommen wird.
Tino Steinborn: Absolut! Damals wurde ich bei dem Handrücken-Tattoo schon anders wahrgenommen, aber meistens positiv. Bei Hals und Gesicht war das nochmal ne andere Hausnummer.
Seitdem ich sichtbar an Hals und Gesicht tätowiert bin, begegnen mir Leute oft mit, ich würde nicht sagen Angst, das trifft nicht zu, eher mit etwas mehr Respekt entgegen. Ich finde, auch wenn Berlin ne coole und lockere Stadt ist, ist ein Tattoo im Gesicht doch noch etwas, womit man auffällt. Sowohl positiv als auch negativ. Je nach Stadt ist es dann auch nochmal stärker zu spüren.
Gab es Momente, in denen du deine Entscheidung bereut oder hinterfragt hast?
Julie May: Bereut habe ich es nie. Es sind sogar meine Lieblingstattoos, über die ich mich immer freue!
Robin Jacobi: Was diese Stellen betrifft auf keinen Fall! Mir ist es unheimlich wichtig, dass ich dem Künstler für diese Stellen zu 100 % vertrauen kann, weil für mich da die Qualität im Vordergrund steht. Bei dauerhaft sichtbaren Stellen sollte man genau überlegen vorher, dann gibt’s auch nichts zu bereuen.
Jeder hat scheiß Tattoos, wenn man mal ehrlich ist. Im besten Falle sind diese irgendwo anders am Körper. Dann wird halt gecovert und gut ist. Bereuen sollte man meiner Meinung nach eh nichts – auch keine Tattoos! Die gehören genauso zu einem, wie alle anderen körperlichen Details!
Tino Steinborn: Ich bin mit all meinen Tattoos an den Stellen super happy. Leute lernen mich so kennen bzw. kennen mich so nicht anders. Auch wenn nicht jedes Tattoo an den Stellen eine Bedeutung hat, bereue ich es nicht ,sie mir gestochen lassen zu haben.
Wie immer individuell
Wie jede Tätowierung sind auch die an Gesicht, Hals und Händen eine permanente Entscheidung. Unsere drei Interview-Partner/innen haben diese jedoch für sich selbst getroffen und sind allesamt glücklich damit. Dabei spielte vor allem die Wahl des richtigen Tattoo Artists eine große Rolle. Auch das Motiv sollte individuell auf die gewünschte Stelle am Körper zugeschnitten sein.
Wer auch einen Tattoowunsch an solchen immer sichtbaren Stellen hegt, sollte es ruhig angehen lassen. Für diese Entscheidung hat man alle Zeit der Welt und muss nichts überstürzen. Anders als Tattoos an Arm oder Bein kann man diese Stellen wirklich nicht mehr verstecken – man ist permanent offensichtlich tätowiert. Wenn ihr alles abwägt und euch der Konsequenzen einer solchen Tätowierung, die sich nicht mehr verstecken lässt, bewusst seid, steht euch jedoch nichts mehr im Wege!
Feelfarbig wird immer kostenlos bleiben!