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More than a Tattooer: Jessica Herzeigen

Neben den schönen Aspekten der ungewollten „Freizeit“ ist es für viele Tätowierer*innen gerade nicht nur aus existenziellen Gründen eine emotionale Herausforderung nicht zu arbeiten. Trotz der Möglichkeit an Projekten zu arbeiten, für die man vorher keine Zeit hatte, fehlt der Kontakt zu Kund*innen und Kolleg*innen. Dass der Beruf Tattoo Artist mehr ist, als nur die Möglichkeit damit Geld zu verdienen und wie sich Jessica Herzeigen gerade jetzt künstlerisch auslebt, erzählt sie uns hier.

Was hat sich bei dir, seitdem euer Studio vorübergehend geschlossen ist, an deinem Alltag verändert?
Ich stehe morgens viel entspannter auf, weil ich ja gar nirgends hingehen muss, frühstücke Pfannkuchen und trage meinen Pyjama den ganzen Tag. Meine Umwelt nehme ich viel bewusster wahr: Der Baum im Innenhof wird täglich ein bisschen grüner, der Himmel immer blauer. Viele Dinge, die ich sonst im doch recht stressigen Alltag gar nicht wahrnehmen würde, schätze ich jetzt viel mehr.
Ich telefoniere super viel mit Freunden und Familie, weil wir uns ja jetzt nicht mehr treffen können und merke, dass die Gespräche viel intensiver und ehrlicher sind als „vorher“. Aber ich merke auch, dass es jetzt für mich sehr wichtig ist, weiterhin eine Aufgabe zu haben, damit ich nicht in ein Loch aus Existenzangst und Sorgen falle. „Einfach nur zuhause chillen“ würde für mich nicht funktionieren, ich suche dauernd nach neuen Aufgaben.
Außerdem ist es sehr spannend für mich, keinen Zeitdruck mehr zu haben und einfach nur so vor sich hinzuarbeiten… Das ist ja das Verwirrende an diesem Zustand: Einerseits kommt man voll zur Ruhe und andererseits sind da diese ganzen Ängste..

Was fehlt dir am meisten aus deinem Job im Alltag?
Meine Kunden! Ich liebe jeden Aspekt meines Berufes, aber am meisten mag ich den Austausch mit Fremden, aus denen während des Tätowierprozesses Vertraute werden. Ich treffe täglich neue und inspirierende Menschen, mit denen ich wunderbare Gespräche führen darf.
Man findet eigentlich fast immer irgendwelche Gemeinsamkeiten oder Gesprächsthemen – das gibt mir wahnsinnig viel Energie. Ich merke, dass sich die Leute bei mir wohlfühlen und ich fühl mich auch wohl mit meinen Kunden. Deswegen fühlt sich die Zeit, die ich im Studio verbringe, auch nie wirklich nach Arbeit an.
Was machst du gerade alternativ zum Tätowieren, um dich künstlerisch auszuleben?
Ich male und zeichne sehr viel, vor allem in Techniken, die ich im Tätowierer-Alltag sonst nicht benutze. Mit Acrylfarben, Kreiden… und ich will noch mehr ausprobieren! Ich mache nur ganz ganz selten bunte Tattoos – jetzt male und zeichne ich aber sehr gerne farbig.
Experimente: Mal wieder realistisch zeichnen, neue Farbkombinationen, mit Ölfarben auf Leinwand malen, einfach was ausprobieren, was man sonst nicht tun würde. Außerdem habe ich wieder angefangen zu sticken und mit Makramee zu basteln und arbeite momentan auch ständig an neuen Prints und Wannados. Die Ideen sprudeln gerade und die Zeit ist jetzt dafür auch da.
Gestern hat mein Freund im Abstellraum ein Graviergerät gefunden. Ich denke, in ein paar Wochen ist jede Fläche unserer Wohnung mit Gravuren verziert. Wir waren sehr entzückt darüber, dass dieses Ding ähnlich wie eine Tattoomaschine klingt.

Gibt es Projekte für die du gerade jetzt Zeit hast?
Ich habe, wie wahrscheinlich viele Kreativschaffende, das „Problem“, dass ich dauernd Projekte anfange, ohne sie zu Ende zu bringen. Da hat sich in den letzten Jahren einiges angesammelt, das vom Tätowieren einfach verdrängt wurde, weil keine Zeit dafür da war. Jetzt habe ich Zeit, diese Projekte zu sortieren und weiterzuführen.
Ich habe Design mit dem Schwerpunkt Film und Animation studiert und immer schon wahnsinnig gerne geschrieben. Vielleicht finde ich die Muse, ein paar meiner Ideen in ein Drehbuch oder eine Kurzgeschichte zu verwandeln. Außerdem hab ich vor eineinhalb Jahren angefangen ein Kinderbuch zu schreiben und zu illustrieren, das würde ich auch super gerne weiter führen!
Was kannst du aus der Situation mitnehmen?
Auch wenn ich das schon vorher wusste: Ich merke gerade jetzt, dass das Tätowieren und all die kleinen Aufgaben, die damit einhergehen, viel viel mehr ist, als nur ein Job, mit dem ich mein Leben finanziere. Tätowieren ist meine große Liebe, meine Leidenschaft und da stecke ich meine ganze Zeit und Energie rein!
Nun, da das wegfällt, habe ich ganz neue Energien für mein soziales Umfeld: Auch wenn ich meine Freunde gerade nicht sehen kann, merke ich, wie extrem wichtig sie für mich sind. Wir rücken gerade alle näher zusammen, trotz der räumlichen Distanz. Das möchte ich mir auch bewahren, wenn die Krise vorbei ist.
Ich fühle auch eine ganz neue Stärke in mir. Als sehr sensibles Menschlein bin ich stolz auf mich, dass ich mich an die neue Situation doch so gut gewöhnt habe und das Beste draus mache. Das tut meiner Selbstliebe gerade sehr gut. Gesellschaftlich betrachtet habe ich aber auch das Gefühl, dass man im Moment viel mehr aufeinander achtet. Die Hilfsbereitschaft ist sehr sehr groß und das finde ich auch wunderschön.

Möchtest du noch etwas zum Schluss sagen?
Meiner Meinung nach ist es in vor allem in Krisen wie dieser super wichtig, sich um sich selbst und um seine Mitmenschen zu kümmern. Keiner soll jetzt alleine sein. Viele von uns haben jetzt sehr große existenzielle Sorgen und die kann man sich auch nicht schönreden. Wenn man sich da aber zu arg reinsteigert, gerät man in einen Zustand der Lähmung und Angst.
Man sollte jetzt sehr achtsam sein: Wie geht es mir gerade? Wie fühle ich mich heute? Wie kann ich das Beste aus einer Situation machen, die ich nicht ändern kann? Ich komme momentan auch oft an die Grenzen meiner psychischen Stärke. Dann schau ich, dass ich mich selber wieder stark mache. Ich meditiere, rede mit Freunden über meine Sorgen, schreibe sehr viel, um diese ganzen unterschiedlichen, wirren Gedanken und Sorgen festzuhalten und zu sortieren.
Was gerade in unserer Welt passiert, ist psychisch sehr anstrengend. Geht lieb miteinander um, zeigt Verständnis. Helft euch gegenseitig, seid füreinander da.
Tätowiererin Jessica Herzeigen
Instagram: instagram.com/herzeigen
Tattoo-Studio: Herzeigen & Paul Fris Tattoo, Nürnberg
Online-Shop: herzeigen.bigcartel.com