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Eigentlich wollten wir mit diesem Beitrag bis zur „Edding Tattoo“-Pressekonferenz am 19.08. warten. Als wir dann gestern den an Andreas Coenen gerichteten Brief gelesen haben, waren wir endgültig fassungslos. Und das obwohl wir nicht mal zu den „eher kritischen Traditionalisten“ gehören.
Doch heute sitzen wir alle definitiv im gleichen Studio.
Mittlerweile hat das Unternehmen Edding nicht nur seine Website www.edding.tattoo, sondern auch noch die Einladung zur Pressekonferenz entfernt. Daher gibt es wohl keinen Grund mehr, mit den Fakten auf irgendwas zu warten. Zum Glück haben wir reichlich Screenshots gemacht.
Doch worum geht’s überhaupt?
Alles fing damit an, dass der Schreibwarenhersteller Edding vor fünf Jahren damit begann, einige Leute aus der Tattoo-Szene für sich gewinnen zu wollen. Denn das 140 Millionen umsatzstarke Börsenunternehmen ist knapp 55 Jahre nach Gründung auf die Idee gekommen, dass sie als Farbexperten ja vielleicht auch auf dem Tätowiermittel-Markt Fuß fassen könnten.
So weit, so logisch.
Also klingelten die Telefone bei vielen deutschen Tattoo Artists und Suppliern, darunter auch Tätowierer Andy Schmidt. Da Andy Schmidt bisher der einzige Name ist, der vom Unternehmen selbst genannt wurde, wollen wir die anderen Namen an dieser Stelle noch nicht „outen“.
Aber wir drücken es mal so aus: Wir waren sehr überrascht. Wer sogar von den „alten Hasen“ Edding zur Seite stand, die normalerweise kompromisslos für das Handwerk und die kommerzfreie Tradition einstehen. Doch Näheres dazu wird sich sicherlich in den nächsten Wochen auftun.
Während einem dieser Gespräche muss das Unternehmen auf die Idee gekommen sein, dass das Produzieren von Farben nicht ausreicht. Sie wollen noch mehr. Dazu verkündeten sie auf ihrer mittlerweile wieder offline genommenen Website unter anderem:
„Die Tattoo-Fans in Deutschland verändern ihre Sichtweise, ihre Ansprüche an Sicherheit, Hygiene und Kreativität steigen. Das Bewusstsein, dass jedes Tattoo bei aller Beliebtheit auch ein potenzielles Gesundheitsrisiko darstellen kann, wächst. Und das ist gut so. Höchste Zeit für einen Neuanfang: mit eigens in Deutschland entwickelten, veganen Tattoofarben und einem ganzheitlichen Sicherheits- und Hygienekonzept hebt edding TATTOO die Kundensicherheit auf das nächste Level. Wir geben einem der ältesten und faszinierendsten Kunsthandwerke einen neuen Rahmen – ohne Kompromisse.“
Darüber hinaus fragen wir uns, warum nun ein Schreibwarenhersteller ein revolutionäres Sicherheits- und Hygienekonzept fürs Tätowieren entwickelt, wenn es mittlerweile sogar mit der DIN EN 17169 “Tätowieren – Sichere und hygienische Praxis” eine offizielle Norm gibt.
Das nennen wir mal selbstbewusst.
Zugegeben: Eine stark traditionell geprägte Szene erobern zu wollen, ist schon nicht einfach. Mit nicht rein kommerziellen Hintergedanken, einer respektvollen Einstellung und dem Aufbau von Vertrauen aber machbar. Jedoch sollte man vielleicht unten anfangen und nicht direkt an der Spitze einsteigen wollen.
Wenn man sich jedoch augenscheinlich eher schlecht beraten lässt, passiert so ein Marketing-Debakel, wie wir es nun alle miterleben.
Man überzeugt nunmal keine Künstler*innen von seinem Produkt, indem man ihnen als Einsteiger erzählt, dass es „höchste Zeit für einen Neuanfang“ sei. Leidenschaft und Erfahrung kann man nicht einfach mit Marketing ersetzen – egal wie viel man investiert. Das sollte ein Familienunternehmen eigentlich wissen.
Doch die Fehltritte enden nicht einmal an dieser Stelle.
Denn irgendwie kam Edding tatsächlich noch auf die Idee, neben eigenen Farben, dem nach eigenen Angaben „revolutionären Hygiene-Konzept“ und den selbst erfundenen „Tattoo-Standards“ auch noch ein eigenes Tattoo-Studio zu eröffnen. Und zwar direkt gegenüber von dem etablierten Studio „Kool Tattoo“ in Hamburg, welches vom langjährigen Tätowierer Sebastian Winter geleitet wird.
Wie sympathisch.
Die Artists, die das Unternehmen seit Jahren scheinbar händeringend sucht, wollte Edding übrigens auf der mittlerweile wohl abgesagten Pressekonferenz vorstellen. Da daraus jetzt vermutlich nichts mehr wird, kann man aber auch einfach einen Blick auf den bisher ungenutzten Edding-Tattoo-Acount @edding_tattoo auf Instagram werfen.
Dort folgen sie fünf Artists, von denen einer bereits als Teilnehmer der Pressekonferenz angekündigt war. Wir gehen davon aus, dass dies die fünf Tätowierer sein werden, die in Zukunft das „ganzheitliche Tattoo-Konzept“ des Schreibwarenherstellers umsetzen werden.
Man darf gespannt sein.
Uns erinnert das Ganze ein wenig an das amerikanische Unternehmen „Bunker Hill Capital“, die unter ihrer Marke “Nexus Brands” namenhafte amerikanische und britische Supplier aufkauften, um ins immer größer werdende Tattoo-Business einzusteigen. Dazu gehören mittlerweile Kingpin, TATSoul, Critical, Barber und sogar Eternal.
Ja, richtig, die weltweit beliebte Farbenmarke „Eternal Ink“ gehört mittlerweile Investment-Schlipsträgern mit hunderten Millionen Dollar in der Hand.
Doch „Bunker Hill Capital“ machte dabei zumindest aus unternehmerischer Sicht eines richtig: Sie bleiben im Hintergrund und spielen mit ihren unveränderten Marken weiterhin „aus der Szene für die Szene“. Das ist selbstverständlich ebenfalls verwerflich und sollte keinesfalls ein Vorbild sein. Aber anscheinend funktioniert das versteckte Steuern aus dem Hintergrund besser, als auf den Tisch zu hauen und mit voller Brust eine neue Tattoo-Ära zu verkünden. Mittlerweile ist “Bunker Hill Capital” bei “Nexus” ausgestiegen.
Es hätte eindeutig besser laufen können, Edding. Doch das Unternehmen hat gleich drei unverzeihliche Fehler gemacht.
Denn die Tattoo-Szene lebt von Tradition, Hingabe und Vertrauen. Ersteres wollten sie ungefragt im Alleingang überarbeiten, das Zweite probierten sie mit Geld auszugleichen und Letzteres haben sie nicht mal versucht, sondern direkt durchgestrichen. Mit nem Edding 500.
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Nachtrag, 18. August: In der vorherigen Version des Artikels wurde nicht eindeutig klar, dass Nexus nicht mehr zu “Bunker Hill Capital” gehört. Der Einstieg ins Tattoo-Business geschah allerdings vor dem Ausstieg.
- https://edding.tattoo (z.Z offline)
- https://www.presseportal.de/pm/61813/4675053 (wurde gelöscht)
- https://www.bunkerhillcapital.com/investments/nexus-brands-34
- https://www.businesswire.com/news/home/20160627006270/en/Bunker-Hill-Capital-Announces-Investment-Kingpin-Tattoo
- https://www.privateequitywire.co.uk/2016/06/28/241019/bunker-hill-capital-invests-kingpin-tattoo-supply
- https://acglaconference.com/wp-content/uploads/ACGLA19_Pitchbook_IPR_09_12_19.pdf
- http://docplayer.net/62283752-Welcome-to-dealfest-northeast-2017.html
- https://www.bunkerhillcapital.com/investments/nexus-brands-34
- https://us.jobrapido.com/jobpreview/1419553775
- https://relationshipscience.com/organization/nexus-brands-group-inc-114452339
- https://pitchbook.com/profiles/company/128463-22
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