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Am 16. April startete eine Petition mit dem Titel “Tattoo- und Piercingstudios wieder eröffnen zum 4.5.2020 analog mit Friseursalons” auf der Internetplattform openPetition. Seitdem wurden wir mehrmals auf die Petition aufmerksam gemacht und darum gebeten, diese zu teilen. Aus verschiedenen Gründen sind wir dieser Bitte nicht nachgegangen. Weshalb wir die Petition nicht ganz geglückt finden, möchten wir euch hier erklären.
Gute Absichten und viele Ängste
Zunächst einmal möchten wir zu Beginn ganz klar sagen, dass die Intention dieser Petition eine gute ist. Wohl niemand der Unterstützer*innen verfolgt beim Unterschreiben der Petition eine böse Absicht. Auch die Kommentarspalte der Petition spiegelt dies wieder, denn sie ist geprägt von Verzweiflung, Existenzängsten, einem Gefühl der Ungerechtigkeit und mangelndem Verständnis für die aktuellen Maßnahmen.
Ein großer Teil der Branche fühlt sich alleingelassen und bangt um seine Zukunft. Da bisher seitens der Politik noch kein Zukunftsplan kam, schwindet scheinbar auch das Vertrauen in deren Entscheidungen. Dabei ist es die Politik, die ihre Entscheidungen in Beratung mit Virolog*innen und anderen Wissenschaftler*innen trifft, um diese Pandemie zu bekämpfen. Mit Blick auf unser Gesundheitssystem, die wirtschaftliche Lage und das Allgemeinwohl.
Die Petition
Initiatorin der Petition ist die Hamburger Tätowiererin und Studioinhaberin Eva Hood. Im Text zu ihrer Petition richtet sie sich direkt an das Bundesministerium für Gesundheit, welches unter der Leitung von Jens Spahn (CDU) steht. Dort fordert sie, dass Tattoo-Studios gemeinsam mit Friseursalons wieder eröffnen dürfen.
Im Petitionstext wird erklärt, weshalb die gemeinsame Öffnung mit Friseuren richtig und fair sei. Diese Forderung wird vor allem mit den hohen hygienischen Standards in Tattoo-Studios begründet. Zudem zieht die Initiatorin einen direkten Vergleich zwischen Friseursalons und Tattoo-Studios, da in beiden kein Abstand von 1,5 Metern gehalten werden könne. Hinzu kommt, dass Tattoo-Studios oftmals nur eine einzige Person pro Tag empfangen würden. Außerdem wäre ein ausschließliches Arbeiten nach Termin möglich, ohne dass sich jemand Weiteres im Wartebereich aufhalten müsse.
Am Ende wird noch einmal explizit der Wunsch nach einer schnellstmöglichen Wiedereröffnung von Tattoo-Studios geäußert. Man wolle seinen Lebensunterhalt wieder bestreiten und Kund*innen glücklich machen können. Ein Wunsch, den wohl alle nachvollziehen und verstehen können.
Tattoo-Studios und Friseursalons – Ein Vergleich, der hinkt
Der Petitionstext besagt, dass das Arbeiten mit Mundschutz und Handschuhen sowie das großflächige Desinfizieren aller Arbeitsflächen in Tattoo-Studios Standard sei. Doch gerade das Tragen eines Mundschutzes ist keineswegs Standard oder gar Pflicht beim Tätowieren. Natürlich arbeiten Tattoo-Studios im Rahmen ihrer Möglichkeiten hygienisch, doch die dafür benötigten Mittel sind aktuell immer noch knapp.
Hinzu kommt, dass diese Mittel auch weiterhin im medizinischen Sektor nur begrenzt zur Verfügung stehen und dort dringender benötigt werden. Denn ein Krankenhausbesuch ist im Gegensatz zu einer neuen Tätowierung kein Luxus, sondern gegebenenfalls eine lebenswichtige Notwendigkeit.
Ein weiteres Argument sei, dass die Studios gleichzeitig mit Friseursalons schließen mussten. Daher sollten sie auch gleichzeitig wieder öffnen dürfen. Restaurants, Bars, Kneipen, Hotels, Kosmetikstudios, Massagesalons – all diese Einrichtungen müssen jedoch auch weiterhin geschlossen bleiben. Das Argument der “Gerechtigkeit für alle” ergibt an dieser Stelle leider keinen Sinn, wenn Expert*innen weiterhin, wenn überhaupt, nur zu einer schrittweisen Lockerung der Maßnahmen raten.
Der erste Schritt ist nun zwar mit der Wiedereröffnung der Friseursalons getan, jedoch dürfen diese nur unter expliziten Auflagen arbeiten.
Des Weiteren steht in der Petition, dass Friseur*innen ihren Kund*innen sogar noch näher kommen, als es ein Tattoo Artist tut. Als Beispiel nennt man hier die Rasur eines Barts. Dabei ist es noch nicht sicher, ob diese Tätigkeit unter den Auflagen für die Wiedereröffnung der Friseurbetriebe überhaupt möglich ist. Darüber hinaus ist ein Tattoo Artist beispielsweise beim Tätowieren von Oberarm, Schulter, Dekoltee oder Hals auch extrem nah am Gesicht der Kund*innen. Womöglich, je nach Beleuchtung und Sehstärke, sogar deutlich näher als ein*e Friseur*in es bei einer Rasur ist.
Abwägung des Infektionsrisikos
Das abschließende Fazit des Textes besagt, dass “das Infektionsrisiko gleichermaßen hoch” sei, da in beiden Situationen kein Abstand von 1,5 Metern möglich ist. Diese Behauptung ist aufgrund der deutlich unterschiedlichen Vorgangsweisen und Tätigkeiten beider Berufsgruppen schlichtweg falsch.
Selbstverständlich ist das Infektionsrisiko bei einem Friseurbesuch nicht mit dem bei einer mehrstündigen Tattoo-Sitzung vergleichbar. Selbst, wenn diese Aussage allein auf das Coronavirus abzielt, ist es nicht mehr als eine nicht belegte Behauptung.
Abgesehen davon, dass Tattoo-Sitzungen in der Regel länger dauern als ein Haarschnitt, stellt das Tätowieren auch eine Art der Körperverletzung dar. Somit ist der Körper in der Regel nach dem Tätowieren ausgelaugt, das Immunsystem geschwächt und der*die Kund*in anfälliger für eine Infektion.
Aufgrund der offenen Wunde, die ein Tattoo eben darstellt, ist das Infektionsrisiko natürlich höher als beim Friseur. Auch, wenn man sich nicht im Studio infiziert, bietet eine offene Wunde durch die Zerstörung der natürlichen Hautbarriere eine Angriffsfläche für Erreger. In der aktuellen Lage ist keinerlei Infektion wünschenswert, da jegliche Belastung des Immunsystems den Köper für das Coronavirus empfänglicher machen kann. Ein geschwächtes Immunsystem ermöglicht eine effektivere Vermehrung von Erregern, was zu einer höheren Ansteckungsgefahr führen kann.
Kein Verständnis
Dass einige Menschen kein Verständnis mehr für die aktuellen Maßnahmen haben, machte auch das Posting einer tätowierten Prominenten deutlich. Innerhalb von drei Tagen bekam ihr Beitrag, in dem sie die Schließung der Tattoo-Studios in Frage stellte, knapp 65.000 Likes. Auch sie merkt an, dass die Hygienebedingungen im Tattoo-Studio mehr gegeben seien als beim Friseur. In den Kommentaren unter ihrem Beitrag scheiden sich die Meinungen. Während einige ihr beipflichten oder sich über die “übertriebenen” Maßnahmen aufregen, weisen andere auf, dass das Tätowieren ein vergleichsweise höheres Infektionsrisiko mit sich bringen kann.
Ganz direkt schreibt sie: “Ehrlich gesagt habe ich keinen Bock, mir meine nächsten Tätowierungen auf meiner Wohnzimmercouch verpassen zu lassen, was übrigens irre unhygienisch ist, weil die renommiertesten Tätowierer dieses Landes keinen Laden mehr haben.”
Auch, wenn diese Aussage natürlich überspitzt ist, spielt die aktuelle Schließung der Tattoo-Studios bereits jetzt Scratchern in die Karten. Das sind diejenigen, die schwarz und unter den unmöglichsten Bedingungen Menschen zuhause tätowieren. So findet man auch aktuell zahlreiche unseriöse Wohnzimmer-Tätowierer*innen, die ihre Dienste zum Beispiel bei eBay Kleinanzeigen anbieten.
Hinzu kommt, dass das Posting im Namen der “ganzen Szene” spricht und so in Medienberichten das Bild entsteht, es gäbe einen Konsens bezüglich des Themas. In der Realität hingegen sind zwar viele Tätowierer*innen frustriert und haben finanzielle Ängste, dennoch sehen sie sich in der Verantwortung.
Auch, wenn Tattoos ihre Leidenschaft sind, ist ihnen klar, dass es sich dabei um ein Luxusgut handelt und sie möchten ihre Kund*innen nicht in Gefahr bringen. Selbst, wenn diese natürlich freiwillig ins Tattoo-Studio kämen, sehen Tattoo Artists sich dennoch verantwortlich für deren Wohlergehen. Wer den Shop gesund betritt, soll ihn bitte auch wieder gesund verlassen können – das ist das Wichtigste. Hinzu kommt, dass viele sich einfach nicht in der Position sehen, die Empfehlungen renommierter Wissenschaftler*innen zu ignorieren oder abzuwinken.
“Das Risiko ist es nicht wert”
Auch Emrah Lausbub ist Tätowierer und Studioinhaber und schloss bereits vor der behördlichen Anordnung sein Studio. Für ihn ist das Verlangen nach einer sofortigen Öffnung der Tattoo-Studios leichtsinnig und zu kurz gedacht.
“Wirtschaftliche Schäden können wir wieder reinholen. Bleibende gesundheitliche Schäden ungeschehen machen oder Tote wiederbeleben, können wir jedoch nicht. Weder in unseren Familien noch bei Freunden, Kunden oder uns selbst.
Ich finde es peinlich, wie sich manche benehmen und was für Aussagen sie von sich geben. Gerade im Hinblick auf den Vergleich mit Friseuren. Oder was für Nachrichten man teilweise bekommt, weil man sagt, dass es jetzt noch zu früh zum Tätowieren ist. Sachen wie “Ja, du kannst es dir ja leisten” etc. Was ein Bullshit – niemand kann es sich leisten. Zumindest keiner, den ich kenne. Ich für meinen Teil verdiene lieber keinen Cent und habe ein gutes Gewissen, dass ich alles dafür getan habe, kein Träger zu sein, niemanden anzustecken und das Risiko damit so gering wie möglich hielt.
Wenn wir, so wie die meisten es wollen, mit den Friseuren gemeinsam öffnen, ständen wir, was Masken und Schutzausrüstung angeht, in Konkurrenz mit dem Gesundheitssystem. Das wäre für mich im Moment nicht vertretbar, da diese Dinge überall fehlen. Die medizinischen Masken muss man eigentlich alle drei Stunden wechseln. Eine Freundin von mir arbeitet auf einer Corona-Station und muss eine solche Maske die ganze Schicht lang tragen. Also deutlich länger als nur drei Stunden.
Ich verstehe durchaus, dass alle Existenzängste haben – die habe ich auch. Aber verhungern werden wir in Deutschland nicht und kein Geld der Welt ist das Risiko wert, krank zu werden, jemanden anzustecken oder jemandes Immunsystem zu schwächen, woraufhin diese Person krank wird. Alle tun so, als würden wir in sterilen OP-Sälen arbeiten, dabei verschieben doch selbst Krankenhäuser nicht-dringliche OPs…”
Gut gemeint, aber…
Insgesamt sehen wir in der Petition natürlich den gut gemeinten Gedanken, eine Branche vor dem Bankrott zu retten. Außerdem generiert sie Aufmerksamkeit und verdeutlicht die problematische Lage, in der sich Tätowierer*innen befinden. Jedoch ist der Vergleich mit Friseursalons und das Fordern einer sofortigen Öffnung, ohne konstruktive Vorschläge oder Informationen zum besonderen Umgang mit der Situation, für uns der falsche Weg.
Anders als es bei Tattoos der Fall ist, gibt es durchaus Menschen, die aus bestimmten Gründen auf einen Friseurbesuch angewiesen sind. Auch wenn diese nicht den größten Anteil ausmachen sollten, sind Tätowierungen hingegen eindeutig für niemanden eine Notwendigkeit. Der undurchdachte Vergleich und die teils falschen Behauptungen im Petitionstext geben uns Bedenken. Denn durch diese entsteht das Bild mangelnden Verantwortungsbewusstseins und fehlendem Verständnis für die Ernsthaftigkeit dieser Pandemie.
Auch wir wünschen uns selbstverständlich auch eine Verbesserung der Lage und eine schnellstmögliche Öffnung der Tattoo-Studios. Damit meinen wir jedoch genau das: So schnell, wie es unter den aktuellen Bedingungen möglich ist – Schritt für Schritt, eins nach dem anderen. Weiterhin wünschen wir uns jedoch von der Regierung, dass es bei Aufrechterhaltung des Öffnungsverbots, mehr Hilfeleistungen für die größtenteils selbstständigen Künstler*innen gibt. Gerade da dieser Berufszweig aufgrund des Bedarfs an medizinisch relevanter Ausrüstung, wie Handschuhen, Desinfektionsmitteln oder Schutzmasken, wohl noch längere Zeit benachteiligt sein wird.
Die Szene hat sich innerhalb der letzten Jahrzehnte stark entwickelt und einige Innovationen hervorgebracht. Auch im Hinblick auf die Gesellschaft haben Tätowierungen einen Wandel hinlegen können. Während sie früher noch als Tabu galten, erfreuen sie sich heute großer Beliebtheit und sind nicht mehr wegzudenken. Eine Szene voller Kreativität und Diversität, die sich in schwierigen Situationen durch starken Zusammenhalt ausgezeichnet hat, kann und darf an dieser Krise nicht zerbrechen. Dies schaffen wir allerdings nur gemeinsam. Und mit Vernunft.
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