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Vor Kurzem erschien in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift “Dermatology” ein Leitartikel des Dermatologen Jørgen Serup. Dort beschrieb der Wissenschaftler die Auswirkungen der Tattoo-REACH-Verordnung auf den Markt und die Kundensicherheit. Dabei fiel sein Urteil recht hart aus, wie der Titel des Beitrags bereits vermuten lässt. Dieser lautet übersetzt in etwa “Chaotischer Tattoo-Markt und keine Verbesserung der Kundensicherheit nach neuen EU-Regulationen”.
Wer ist Jørgen Serup?
Professor Dr. Jørgen Serup ist ein dänischer Dermatologe und Wissenschaftler, der sich dem Thema Tattoos bereits seit vielen Jahren widmet. So hat er nicht nur 2013 die Europäischen Gesellschaft für Tattoo- und Pigmentforschung (ESTP) gegründet, sondern ist auch Leiter der ersten auf Tattoo-Reaktionen spezialisierten Klinik in Kopenhagen.
Dementsprechend hat er nicht nur in seinem Alltag als Kliniker bereits zahlreiche Tätowierungen und Nebenwirkungen sehen können, sondern hat darüber hinaus mit vielen anderen Wissenschaftler*innen, Tätowierer*innen und Unternehmer*innen aus der Tattoo-Branche zusammenarbeiten können. Somit hat er natürlich auch den jahrelangen Prozess der versuchten Regulierung von Tattoofarben seitens der EU mitverfolgt.
Es begann vor knapp 20 Jahren…
In seinem Beitrag berichtet Serup davon, dass die EU bereits 2003 versuchte, eine Regulation für Tattoofarben anzustoßen. Dieser Versuch scheiterte jedoch daran, dass nicht ausreichend wissenschaftliche Erkenntnisse zum Thema Tattoos vorlagen.
Fünf Jahre später gab es dann einen weiteren Versuch. Aus diesem resultierte die Resolution ResAp(2008), welche Kriterien für die Sicherheit von Tätowierungen und Permanent Make-up festlegte.
Was besagte die ResAp(2008)?
Laut der Resolution von 2008 sollten Tattoofarben bestimmte Grenzwerte für Schwermetalle und krebserzeugende polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe einhalten. Andere Inhaltsstoffe, wie die krebserzeugenden aromatischen Amine, sollten gar nicht in Tattoofarben enthalten sein.
Akzeptiert wurde diese Resolution von 10 EU-Mitgliedern, welche jedoch keine wirklichen Kontrollen von Tattoofarben durchführten. Somit hatte die ResAp(2008) laut Serup keine Auswirkungen auf den Tattoo-Markt.
Tattoofarben als Teil des REACH-Systems
Im Jahre 2020 entschied sich die EU dann dazu, dass Tattoofarben zukünftig als Chemikalien in das REACH-System fallen sollten. Dieses System wird von der Europäischen Chemikalienagentur (ECHA) verwaltet und bringt für EU-Mitglieder verbindliche Regulierungen hervor.
Dies war für viele Expert*innen überraschend, da das REACH-System eigentlich für einzelne Chemikalien gedacht ist. Da Tattoofarben hingegen jedoch aus mehreren Substanzen bestehen, stellen sie ein Gemisch an Stoffen dar. Damit sind Tattoofarben die ersten Gemische, die in die Haut injiziert werden, welche über REACH reguliert sind. So nennt Serup die Aufnahme der Farben in das REACH-System ein “mutiges Experiment”. Seiner Ansicht nach wollte die EU Tattoofarben um jeden Preis in irgendein bereits bestehendes System hineinpressen statt eine auf sie zugeschnittene Verordnung zu erarbeiten.
Seit dem 4. Januar 2022 werden Tattoofarben nun über die REACH-Verordnung reguliert. Dazu gehören die Einführung verschiedener Grenzwerte für bestimmte Stoffe und das Verbot einiger Stoffe in Tattoofarben.
Tattoos sind missverstanden
Prinzipiell stellt das Tätowieren eine Injektion von Tattoofarbe in die Haut dar. Die Farben, die dabei verwendet werden, sind so zusammengesetzt, dass sie in der Haut möglichst ein Leben lang erhalten bleiben. Das impliziert laut Serup, eine “sehr starke lokale Bindung statt einer systemischen Exposition”.
Damit ist gemeint, dass die Bestandteile von Tattoofarben, die in der Haut verbleiben, an einer Position verankert sind. Sie kommen nicht unbedingt mit dem gesamten System, also anderen Organen oder Zellen des Körpers, in Kontakt. Stattdessen sind sie sehr stark auf einen kleinen Bereich begrenzt und interagieren so nur lokal, also nur mit einer bestimmten Anzahl an Zellen. Laut Serup verbleiben die Pigmente der Tattoofarben dem aktuellen Kenntnisstand nach nur an der Hautstelle, welche tätowiert wird, sowie in naheliegenden Lymphknoten.
Aktuell gibt es keine Methode, um die Dosis an Tattoofarbe zu bestimmten, die durch ein Tattoo im Körper verbleibt. Der Dermatologe schreibt, dass die Dosierung nur einmalig stattfindet. Dies würde in toxikologischen Experimenten aktuell nicht wirklich beachtet. Stattdessen würde man dort mit “provokativ hohen” Dosen arbeiten und von einer chronischen Belastung ausgehen. Dementsprechend gibt es laut Serup bis heute kein valides toxikologisches Modell, um das realistische Gefahrenpotential von Tattoofarben zu untersuchen.
Die Wissenslücken sind bekannt
Im Zuge der Resolution ResAp(2003) stellte damals ein Forschungszentrum fest, dass die Wissenslücken im Bereich Tattoos riesig waren. So gab es kaum eine wissenschaftlich aussagekräftige Studie zu Tattoofarben direkt an menschlicher Haut. Stattdessen gab es nur wenige Experimente mit Kleintieren oder Zellkulturen.
Aus dieser Erkenntnis resultierte also eine Resolution, welche laut Serup keinerlei Auswirkungen auf die Tattoo-Industrie hatte. Diese verbot also nur nach dem Vorsorge-Prinzip zahlreiche Substanzen, welche als krebserregend, mutagen oder gefährlich für das ungeborene Leben eingestuft werden.
Ein Schritt in die falsche Richtung
Laut Serup wird das Ziel der verbesserten Kundensicherheit mit diesem Ansatz verfehlt. Denn in den vielen Jahrzehnten des Tätowierens deuten weder Erfahrungen noch Fachliteratur auf einen Zusammenhang von Tattoos und erhöhtem Krebsrisiko oder Geburtsfehlern hin. Stattdessen seien die bekannten Tattoo-Komplikationen zum Beispiel bakterielle Infektionen, Allergie gegen rote Tattoofarbe, Granulome oder Sarkoidosen durch schwarze Tattoofarbe oder Sonnenempfindlichkeit.
All diese tatsächlichen Nebenwirkungen von Tattoos wurden bei der Regulierung jedoch komplett außer Acht gelassen. Dementsprechend verfehlen auch die aktuellen Regulierungen durch REACH aus Serups Sicht ihr Ziel, die Kundensicherheit zu verbessern.
Außerdem kritisiert der Dermatologe auch die Absurdität der Grenzwerte: “Keine Industrie kann garantieren, dass 4.150 Chemikalien nicht vorhanden sind oder in Konzentrationen unter 0,00005 %, 0,001 %, 0,01 % oder 0,1 % vorliegen.” Zudem kommt die Frage auf, wie diese Anforderungen überhaupt überprüft werden sollen. Schließlich hat die REACH auch dafür keine Vorlage geliefert.
Vorsorge ohne Effekt?
Eine solche vorsorgliche Regulation sollte laut Serup verhältnismäßig sein: “Die Intervention sollte einen Effekt haben, der die dadurch entstehende Belastung rechtfertigt.” REACH hingegen reguliert 4.150 Chemikalien und hat dabei 1.800 Einschränkungen direkt aus der Regulierung für Kosmetikmittel übernommen.
Das führte auch zu dem Verbot der Pigmente Blue 15 und Green 7 – auch wenn eine besondere Unsicherheit dieser Pigmente beim Tätowieren nie dokumentiert wurde. Besonders kritisch ist dies, da es für das blaue Pigment laut Tatttoo-Expert*innen keinen adäquaten Ersatz gibt. Nun sind die Pigmente Blue 15 und Green 7 nach dem 4. Januar 2023 nicht mehr in Tattoofarben zugelassen. Trotz zahlreicher Warnungen, dass dies zu einer Kriminalisierung der Tattoo-Branche in der EU führen würde, bleibt der Beschluss bestehen. So tätowieren noch heute zahlreiche Tätowierer*innen mit “alten” Farben, während “neue” Farben quasi samt Zertifikaten zur Deko im Laden stehen. Alternative blaue Pigmente wurden von zahlreichen Expert*innen wiederholt als nicht qualitativ hochwertig genug umschrieben und sollen auch zu optisch schlechteren Ergebnissen führen.
Kein entscheidender Beitrag zur Sicherheit
Dass die “neuen” Farben erst noch den Test der Zeit bestehen müssen, sieht Serup als großen Nachteil dieser an. So hat er bereits unübliche Probleme nach dem Tätowieren mit “neuen” Farben sehen können.
Der Dermatologe vermutet, dass die EU keinen Rückzieher machen wird und an der Tattoo-REACH festhalten will – egal, wie ungeeignet diese Art der Regulierung für Tattoofarben laut Expert*innen ist. Serup sieht keine Verbesserung: “Ich werde wohl auch weiterhin so viele Tattoo-Komplikationen in meiner Klinik sehen, wie auch sonst immer. Infektionen, Allergie gegen rote Farbe, Granulome und Sarkoidose in schwarzen Farben etc.”
Eine andere Richtung einschlagen
Auch die ESTP sieht die Regulierung von Tattoofarben über REACH kritisch. Sie betonten, dass Tattoofarben nicht als einzelne Chemikalien über die REACH reguliert werden können. Stattdessen fordern sie eine eigene Regulation, die auf Tattoofarben zugeschnitten ist. Dort sollten dann auch Themen wie mikrobielle Sicherheit, also Verunreinigung durch Bakterien, oder das Verhalten von Nano- und Mikropartikeln eine Rolle spielen.
Eine gute Alternative zur aktuellen Tattoo-REACH wäre eine Positivliste an Stoffen, die in Tattoofarben enthalten sein können. Laut Serup würde eine solche Liste einen richtigen Game Changer darstellen.
Leider fällt sein Fazit recht frustrierend aus: “Wir werden wohl mit dem neuen Chaos im Tattoo-Sektor und illegalen Aktivitäten für die nächsten Jahrzehnte oder länger leben müssen. Wir sollten die regulierenden Organe jedoch konstant daran erinnern, dass eine separate und gezielte Regulierung von Tattoofarben gebraucht wird. Sichere Tattoofarben werden von vielen Seiten gefordert, darunter auch Tätowierer*innen, die viel für die Professionalisierung der Branche getan haben. Sie haben ungefragt einen Hygienestandard für das Tätowieren nach EU CEN-Standard entwickelt.”
Der gute Wille und das Interesse an Kundensicherheit ist in der Branche also grundsätzlich vorhanden. Dass die EU nun die Chance so verspielt hat, das Tätowieren wirklich sicherer zu machen, ist hingegen ernüchternd.
- Bispebjerg and Frederiksberg Hospital. Department of Dermatology. Jørgen Vedelskov Serup. research.regionh.dk/bispebjerg [zuletzt abgerufen am 11.12.2022]
- Serup J. (2019) On the history of the European Society of Tattoo and Pigment Research (ESTP) inaugurated 13th November 2013 in Copenhagen. estpresearch.org [zuletzt abgerufen am 11.12.2022]
- Serup J. (2022) Chaotic Tattoo Ink Market and No Improved Costumer Safety after New EU Regulation. Dermatology 2022.
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