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Emotionen in Tinte: DDR-Tätowierungen erzählen Geschichte
In diesem Gastbeitrag trifft der angehende Historiker Marcus Schäfer den Zeitzeugen Karl Hutzenschreuter, um sich mit ihm über seine DDR-Tätowierungen zu unterhalten. Dieses Gespräch ist Teil einer geschichtswissenschaftlichen Studie zum bisher nur oberflächlich untersuchten Thema „Tätowierungen in der DDR“. Bereits vor einem Jahr unterstützten wir das Gesuch des Autoren, der für dieses Projekt auch weiterhin nach Zeitzeug*innen sucht. Mehr zu Marcus Schäfer erfährst du unten.
Karl Hutzschenreuter begegnet mir in einem rustikalen Café im Zentrum von Freiberg in Sachsen. Er ist einer der Zeitzeugen, die sich auf mein Gesuch hin gemeldet haben. Vor beinahe einem Jahr habe ich angefangen, Interviewpartner*innen für eine geschichtswissenschaftliche Arbeit zu DDR-Tätowierungen zu recherchieren. Diese Geschichte liegt in großen Teilen noch verborgen, da es im ehemaligen ostdeutschen Staat keine öffentliche Tattoo-Kultur gab.
Über Guerrilla-Plakataktionen, Annoncen in Printmedien, Posts auf Social Media, Schriftverkehr mit DDR-Historiker*innen, Zeitzeug*innen-Börsen und auch durch die Hilfe der lieben Menschen von Feelfarbig konnte ich zahlreiche in der DDR tätowierte und/oder tätowierende Menschen finden. Und sie alle tragen Hautbilder, welche die Diversität ihrer Lebensgeschichten unterstreichen.
DDR-Tätowierungen: Die Geschichte von Karl
Einer von ihnen ist Karl. Er wurde noch während des Zweiten Weltkriegs 1943 in Chemnitz geboren – im nächsten Jahr wird er stabile 80 Jahre alt – und wuchs im Landkreis Meißen, ganz in der Nähe von Dresden, auf. Karl bringt dankenswerterweise einen Stapel lebensgeschichtlicher Dokumente mit. Darunter befinden sich sein alter Schülerausweis, Fotos von ihm als junger Mann in Seemannsuniform und ein Diplom von der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft der DDR, welches ihn als Diplomstaatswissenschaftler ausweist.
Auch bei der Volksmarine der Nationalen Volksarmee (NVA) ist Karl später als Berufssoldat gewesen – letzter Dienstgrad: „Kaleu“, also Kapitänleutnant. Karl war Zeit seines Lebens begeisterter Sozialist und ist es auch heute noch. Auf die „Wende“ blickt er kritisch zurück und so ganz verwunden hat er den fragwürdigen Umgang mit den Ostdeutschen – genannt seien hier nur der desaströse wirtschaftliche Ausverkauf durch die Treuhand, die Geringschätzung ostdeutscher Lebensläufe und die Abwertung ostdeutscher Kultur als rückständig – noch nicht.
Karl steht zu seiner Vergangenheit in der Sozialen Einheitspartei Deutschlands (SED) und bereut sie nicht, auch wenn er vieles von dem, was damals passiert ist, heutzutage wesentlich kritischer sieht. Nichtsdestotrotz hat er sich als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft der DDR gefühlt.
Von Herzen Seemann
Ebenso wie Karl von ganzem Herzen Seemann der Elbschifffahrt bei der VEB Fahrgastschiff-fahrt „Weiße Flotte“ und später in der Volksmarine war, so sind auch seine ikonischen Tätowierungen Ausdruck dieser lebenslangen Leidenschaft. Er beschreibt mir seine immer noch erstaunlich stark leuchtenden Tätowierungen:
„Also, auf dem linken Unterarm habe ich – ich fang oben an – drei Möwen. Das gehört ja zum Seemann dazu [grinst]. Dann einen „klaren Anker“. Das ist wichtig, dass man das sagt, ein „klarer Anker“ [der also nicht von einem Tau umschlungen ist]. Das habe ich mir selbst beigebracht, selbst gestochen. Unter dem Anker steht „Santa Maria“, das kann man heut auch gar nicht lesen. Wie gesagt, die ist seit 1960, die Tätowierung. Dann muss zum Seemann noch dazugehören: ein durchbohrtes blutendes Herz. Und weil ich aus dem Kreis Meißen komme, hab ich mir dann noch die „Meißener Schwerter“ tätowieren lassen. Das hat ein Kollege gemacht, also ab hier. Und worauf ich ein bisschen stolz bin, ist das sogenannte „Seemannsgrab“: Glaube – das Kreuz, Liebe – das Herz, und Hoffnung – der Anker. Das ist meine einzige sehr sehr gut gelungene… [Tätowierung], das könnte fast schon ein Profi gemacht haben.“
Das erste Tattoo mit 17
Inzwischen sind auch Karls Sohn und Tochter mehrfach tätowiert. Anders als ihr Vater waren seine Kinder in einem professionellen Tattoo-Studio. Dafür ist Karls Geschichte sicher die abenteuerlichere. Als er tätowiert wurde, war er gerade einmal knapp 17 Jahre alt. Gestochen wurden die Motive während seiner Ausbildung zum Bootsmann der Binnenschifffahrt während eines Lehrgangs in der Nähe von Magdeburg-Schönebeck in einem Lehrlingsheim. Karl und einige Genossen waren gerade für vierzehn Tage in Quarantäne. Warum, weiß er gar nicht mehr, aber wahrscheinlich wegen Gelbfieber oder Scharlach.
Zum Tätowieren braucht man nun bekanntermaßen Farbe, die man damals aber nicht einfach kaufen konnte. Also wurde sich mit gewöhnlicher Schreibtusche abgeholfen. Maßnahmen zur Desinfektionen kamen den jungen Seemännern gar nicht in den Sinn: „Wir haben das mit drei Nadeln gemacht, vorgezeichnet mit drei Nadeln und dann das Glück, das keiner von uns ne Blutvergiftung hatte [lachen]. Das hat geblutet! Da haben die gesagt… ich hatte SO einen Arm.“
Die Kameraden markierten sich ebenfalls mit Seemannsmotiven, einem Segelschiff auf dem Arm oder dem Fuß. Wieder andere tätowierten sich das Konterfei ihrer damaligen Freundin. Trotzdem meint Karl, dass er während seiner Laufbahn insgesamt kaum andere tätowierte Seefahrer gesehen hat. Und er betont, dass er – auch wenn Tätowierungen damals in der Gesellschaft wesentlich verpönter waren als heute – selbst nie von anderen wegen seiner Bilder stigmatisiert wurde.
Tätowierung als Symbol der Männlichkeit?
Und warum haben sich die jungen Kerle tätowiert? „Wir waren die größten Seeleute auf der Elbe. Haben wir damals gedacht [lachen]. […] Auf jeden Fall, wir hatten Langeweile gehabt und haben das ganz spontan aus Langeweile gemacht.“
Apropos Kerle: „Das hat die Männlichkeit unterstrichen, das Tätowieren. […] Also wie gesagt, [dass] der Beruf oder die Männlichkeit unterstrichen werden sollte damit.“
Seine These ist alles andere als abwegig und sie erklärt möglicherweise, warum ich für mein Projekt bisher leider noch keine tätowierten Frauen finden konnte. Dem jetzigen Stand der Forschung nach ließen sich Tätowierungen früher häufig in vormals eher von Männern geprägten Professionen finden, also eben im Militär oder auch in der Seefahrt im Allgemeinen. Nicht wenige Zeitzeugen mit DDR-Tätowierungen haben sich ihre Tätowierung während ihrer Zeit bei der NVA auf der Stube gestochen, manches Mal Motive mit Militärbezug, oft aber auch ganz andere Dinge.
Wo es viele tätowierte Frauen gegeben haben soll, waren die Frauengefängnisse der DDR, wie mir ehemalige (nicht-tätowierte) Insassinnen berichteten. Hier gab es wohl einige Frauen, die sich Motive stechen ließen, welche Sehnsucht, Liebe oder auch Sexualität ausdrückten. Auch in Haftanstalten für Männer gab es nicht wenige Tätowierungen.
Tattoos sind für immer
Und was hält Karl nach all den Jahrzehnten und einem bewegten Leben heute von seinen Tätowierungen? „Mir gefällt´s nach wie vor. […] Auf das Seemannsgrab bin ich irgendwie ein bisschen stolz, weil das was ganz Klares ist. Und stolz bin ich auch, dass ich mir das selber beigebracht habe. […] Also mir gefällt´s nach wie vor und ich möchte das auch nicht missen. Ich hab da auch nie dran gedacht, das irgendwie überstechen zu lassen und dann diese… Haut rausschneiden und was weiß ich. Also auf den Gedanken wär ich nie gekommen. Ich find´s gut so.“
Karls DDR-Tätowierungen sind mit den verschiedensten Emotionen und Bedeutungen aufgeladen: Der Identifikation mit Herkunftsort und Profession, der Zugehörigkeit zu einer Gruppe und sowieso dem Stolz und der Freude darüber, sich selbst geschickt ein vernünftiges Tattoo mit primitiven Mitteln gestochen zu haben. Sie spiegeln die Tradition und den Ritus der Seemannstätowierung wider. Auch sind sie bei ihm ein Ausdruck des Gefühls der Langeweile in der Isolation, das „Gefühl“ einer prolligen Idee von Männlichkeit und dem Drang, diese nach außen tragen zu wollen. Und in der Gegenwart sind seine Tätowierungen sicher auch einfach eine Erinnerung an eine andere Zeit. Gleichzeitig sind sie ein Beweis dafür, dass die Tätowierung auch unter widrigen systemischen Bedingungen nicht totzukriegen ist.
Kennst du jemanden aus deiner Umgebung – im Freundeskreis, Verwandte oder Bekannte –, der*die eine Tätowierung aus DDR-Zeiten mit sich herumträgt, und gerne seine*ihre Geschichte erzählen möchte? Dann melde dich gerne bei mir unter: marcus.schaefer@fu-berlin.de
Über Marcus Schäfer
Marcus Schäfer hat nach einer Ausbildung zum Metallbauer Fachrichtung Konstruktionstechnik die Fächer Geschichte und Filmwissenschaft an der Freien Universität Berlin studiert. Dort absolviert er momentan seinen Master in Public History und arbeitet nebenher am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung im Bereich „Geschichte der Gefühle“.Die Liebe für Tätowierungen kam im 13. Lebensjahr, mit 16 gab es dann das erste Tattoo für ihn. In seinem Studium hat er unter anderem die US-amerikanische Tätowierung aus einer kultur- und körpergeschichtlichen Perspektive heraus untersucht. Nun möchte er sich der deutschen Tattoo-Geschichte widmen und die ehemalige Szene rund um DDR-Tätowierungen untersuchen.